Selbstverwirklicht
Als ich neulich
von meiner mittelschweren Arbeit als Bürodiener beim Liegenschaftsamt nach Hause
kam und den
Kühlschrank öffnete, starrte mich das Nichts an. Nichts ist ein wenig
übertrieben, denn in der oberen Ecke des Kühlschrankes versteckte sich verschämt
eine kleine schon etwas angegangene Tomate. Meine Frau Bea, die schon seit
langem nicht mehr für uns kocht, hatte wieder mal vergessen einzukaufen. Vor
Jahren erbte Bea von ihrer Mutter, Gott hab sie selig, ein erkleckliches
Sümmchen
Geld, und seitdem
gehen wir essen oder verköstigen uns aus Beständen der Tiefkühltruhe.
Meine Frau verwirklicht sich selbst. Das tut sie aus voller Inbrunst. Zuerst war
es ein Makramee-Kurs.
An den von meiner
“besseren Hälfte“ in Knüpfarbeit gefertigten Blumenampeln, die in allen Räumen
von der Decke baumeln, habe ich mir schon des öfteren den Kopf gestoßen. Danach
hatte es Bea das Töpfern angetan. Diverse Kleinplastiken verstopfen seitdem
unsere Wohnung. Einen besonders hässlichen Torso, der mich wegen seiner
Ungestalt ein wenig an meine eigene Figur erinnerte,
entsorgte ich
eines Tages heimlich in die Mülltonne. Nach einem abgebrochenen Samba-Lehrgang,
welcher nur sein vorzeitiges Ende fand, weil ich Bea vor die Alternative
gestellt hatte - der Schmachtfetzen von Sambalehrer oder ich - entdeckte meine
mir Angetraute nach unserem
Türkeiurlaub ihre
Leidenschaft für den Bauchtanz. Mein Bauch wurde immer weniger, ihrer dagegen
durch das ständige
Üben immer muskulöser. Ich fühlte mich mitunter in einen Haremspalast versetzt,
wenn Bea bei lauter orientalischer Musik durch die Räume schwebte und dabei so
mit den Hüften wackelte, dass die Blumenampeln in heftige Bewegung gerieten.
Nachts, wenn ich vor knurrendem Magen nicht einschlafen konnte, stellte ich mir
vor, wie ich mit
einem Messer die
Makrameearbeiten von der Decke schnitt, die Blumentöpfe aus dem Fenster
schmiss, die
Plastiken mit einem Langstielhammer zertrümmerte und die Kassetten mit der
nervtötenden
Bauchtanzmusik mit meinen schweren Bergstiefeln zermalmte. Nach wirren Träumen
wachte ich schon im Morgengrauen auf und bereitete mich völlig entkräftet auf
meine Arbeit im Liegenschaftsamt vor. Ich war nur mehr ein Schatten meiner
selbst. Was würde sich meine Frau als nächstes einfallen lassen, wenn ihr
Interesse am Bauchtanz erlahmte? Würde sie sich vielleicht ein Gamelanorchester
bestellen und kultische Veranstaltungen und Schattenspiele in unserer Wohnung
aufführen? Manchmal erwischte ich mich bei dem ketzerischen Gedanken, sie würde
sich für das Brutverhalten der Pinguine interessieren und an einer
Antarktisexpedition teilnehmen.
Zufällig las ich in der Lokalpresse ein Inserat der Volkshochschule, welches für
einen
Psychologielehrgang warb. Versprochen wurde in der Anzeige, dass ein
diplomierter Psychologe den Teilnehmern Durchsetzungsvermögen und mentale Stärke
antrainieren würde. Ich ergriff die Gelegenheit
beim Schopfe und
meldete mich an. In der ersten Unterrichtseinheit stellten wir uns im Kreis auf.
Der Psychologe forderte uns auf, uns mit einem Urschrei von allem seelischen
Ballast zu befreien. Ich tat wie mir geheißen und fühlte ich mich daraufhin
schon viel besser.
Unser Kurs “Wie
erkenne ich mich selbst“ trug Früchte. Ich erkannte vor allem, dass ich bisher
ein großer Trottel
gewesen war. Ich hatte mir alles gefallen lassen und nie mit der Faust mal auf
den Tisch geschlagen. Schon nach der dritten Unterrichtsstunde gelang es mir,
Dank meines wieder gewonnen Selbstbewusstseins und meiner erworbenen Rhetorik,
meine Frau zu überzeugen, dass wir fortan gemeinsam einen thailändischen
Kochkursus besuchen.
Wir haben den Tiefkühlschrank verkauft und uns einen Wok zugelegt. Das Essen ist
auf Dauer
zwar ein wenig
einseitig, aber wir haben endlich gemeinsame Interessen, und Bea und ich sind
wieder ein
leidlich glückliches Paar.