Der Eisstock
- eine
Weihnachtsgeschichte von 1944 -
Im Advent, der geheimnisvollsten und vorfreudeseligsten Zeit des Jahres, wurden
in allen
Haushalten die Vorbereitungen für das nahende
Weihnachtsfest getroffen. Längst unterwegs
waren die Briefe und Päckchen an die Front zu den
Vätern. Meine Mutter bereitete mir mit sonstigen Extraaufträgen auch wenig
Freude, man kam kaum noch zu den wichtigen Dingen des Lebens: zum Spielen und
Herumtoben.
„Bub, komm schau her. Gehst zum Schmied mit diesen Büchsen und sagst ihm, er
soll sie zulöten.
Also, bittschön komm’ und sag dem Schmied einen
schönen Gruß, die Büchsen mit dem Sauerkraut schicken wir der Oma und dem Opa
nach Mannheim – zu Weihnachten. Da nimm 50 Pfennig mit,
es wird reichen zum Bezahlen.“
Meine Mutter sah mich streng an wegen meines Zögerns. Aber schließlich, zum
Schmied war’s
weit und draußen bitterkalt.
Widerwillig brach ich auf, schlenzte den Rucksack über die Schultern und trat
hinaus aus dem
Tor des Hofes. Draußen blieb ich stehen, schaute
neidisch hinüber zum Entenweiher. Die Neudeckerbuben standen am Rand des
zugefrorenen Weihers und scheibelten mit ihren Eisstöcken
über das matt und dunkel schimmernde Eis, das die
Tiefe des Wassers nur ahnen ließ.
Mich fror in meinen kurzen Hosen, die braunen, kratzenden Wollstrümpfe reichten
mir gerade
über die Knie und dies auch nur, weil von Strapsen
mühsam gehalten.
„Ja da schauts den Preußen an, in seinen kurzen Hosen!“ spotteten die Buben –
aber so
ganz ernsthaft klang es nicht. Man muss wissen:
Die Mühlhausers und die Neudeckers waren tief verfeindet, so tief wie es nur auf
einem oberbayerischen Weiler zwischen zwei Höfen und
zwei Familien möglich ist. Aber uns Kinder focht
dies nicht an. Gönnerhaft boten sie mir an
mitzuspielen.
So vergaß ich halt eine Weile meinen Auftrag, die Mutter und den Schmied und
warf den
Eisstock vom Sebastian in die Richtung der Taube
am anderen Ufer des Weihers, einem Würfel
aus Holz, dem möglichst nahe zu kommen war. Warm
wurde es einem bei dem Spiel, es gab hitzige Debatten welche Mannschaft der
Taube am nächsten gekommen war.
Einen Eisstock zu besitzen, dies schien mir das erstrebenswerteste Ziel eines
bayerischen
Buben zu sein. Doch ich war halt nur ein Preuß’
mit kurzen Hosen, angetan im Sommer wie im
Winter, ein Niemand – und ohne Chance auf einen
Eisstock.
Schließlich trollte ich mich in Richtung Lehen, auf dem Weg dorthin lag die
Schmiede, gleich
neben dem Wagner. „Grüß Gott,“ rief ich in das
Halbdunkel der Schmiede hinein, „meine Mutter
schickt mich, Sie sollen bittschön die Büchsen
verlöten.“ Der Schmied brummte einen
unverständlichen Satz in seinen Bart. Umständlich
richtete er sein Werkzeug.
Mich umschauend in der verrußten, geheimnisvollen Schmiede, in der es nach
verbranntem
Horn, Kohle und Rössern roch, fiel mein Blick auf
die Werkbank am Fenster. Im milden Licht des Dezembernachmittags standen zwei
Eisstöcke. Eschenweiße Makellosigkeit, die Griffe oben geschwungen, sich leicht
verdickend, noch ohne die Reifen aus Schmiedeeisen, die Eisstöcke
trugen um den rauen Umgang mit ihnen zu
überstehen. Ich schluckte tief. „Mei, sind die schön,“ flüsterte ich
selbstvergessen. „Wer hat die Stöck denn bestellt?“ fragte ich den Schmied. „Ja
das Christkindl halt, wer denn sonst?“ Der Schmied lächelte versonnen, zog das
Zinn über die Naht der zweiten Büchse und schwieg sich aus.
Draußen in der Verdämmerung des Nachmittags hörte man das Geräusch eines
Leiterwagens.
Brrr – der Wallach blieb schnaubend stehen. Auf
dem Bock saß Eugen, sein Neffe Karli, gerade
fünf Jahre alt, saß halb erfroren daneben. „Servus
Schmied, schaust bittschön nach dem Fritz
seinem rechten Hinterhuf?“ Die Stimme Eugens klang
besorgt. „Ja mei, wenn ich fertig bin mit den Büchsen, dann schau’ ich gleich:“
Der Schmied wischte mit einem Lappen die Nähte der
Büchsen blank.
„Gibst mir ein Fuffz’gerl, Bub. Hast überhaupt soviel?“ Der Schmied sah mich
zweifelnd an.
Wortlos steckte er die Münze ein, die ich ihm
hinstreckte. Karli stand indessen wie angewurzelt
da und starrte die Eisstöcke an. „Mei, sind die
schön,“ seufzte er. „Ja, das hat der Preuß
auch schon gesagt,“ brummte der Schmied und in
seinen Augen fand ich so ein
merkwürdiges Glitzern.
Wir Buben schauten beim Beschlagen des Wallachs zu. Hufhorn verbrannte beim
Anpassen des Hufeisens. Der Geruch beizte und trieb uns Wasser in die Augen.
Zwischendurch starrten
wir immer wieder wie gebannt auf die Eisstöcke.
„Du, wir wünschen uns auch einen
Eisstock vom Christkindl,“ flüsterte Karli mir
beschwörend ins Ohr. „Wenn wir vielleicht
ganz, ganz brav sind bis Weihnachten dann erhört
uns das Christkindl vielleicht noch, meinst nicht?“
„Ja mei, so arg brav sind wir heuer nicht
gewesen,“ mir fielen alle meine Bubensünden ein. Ich zuckte mit den Schultern,
aber Karli ließ nicht locker. „Weißt was, wenn wir vielleicht beten täten zum
Christkindl, meinst nicht das täte helfen?“ „Ja mei, probieren könnten wir es ja
mal – aber ich bin doch
evangelisch. Meinst du das hilft bei eurem
katholischen Christkindl?“ Ich schaute resigniert.
„Ja mei, das weiß ich freilich auch nicht,“ gab
Karli kleinlaut zur Antwort.
“Wir probieren es halt einfach,“ entschied ich.
„Komm wir machen einen Umweg übers Bildstöckel
in der Mirn.“ „Wir gehen zu Fuß, Eugen bring
bittschön die Büchsen mit,“ rief Karli in das Dunkel der Schmiede. Dann trollten
wir uns.
Die Mirn, eine menschenleere Talsenke, lag unter dem hohen Himmel vor uns. An
der Wegkreuzung
nach Oberneukirchen stand ein Bildstock. Eine
Maria auf der Mondsichel, ihr apfelbäckiges Gesicht lächelte mild auf uns Buben
herab. Wir beteten inbrünstig und so wie wir erzogen waren, Karli
katholisch, ich evangelisch. Schließlich waren wir
steif gefroren und es dunkelte. Wir stromerten
durch den Hangwald nach Hause.
Seltsam leicht war uns, alles Schwere schien von uns abgefallen. Den
Nikolaustag, diese bedrohliche Hürde vor dem Christkindlabend hatten wir
ziemlich gerupft überstanden. Alex und Barri, die beiden russischen
Zwangsarbeiter, halfen als Ruprechte verkleidet dem Nikolaus. Mit fürchterlichem
Geschrei und Kuhkettengerassel kündigten sie uns schon auf dem Flur an, dass wir
Racker keine Gnade zu erwarten hätten. Erstarrt blickten wir in die dunklen
Löcher der Jutesäcke, die sie uns entgegenhielten um uns hineinzustecken. Nur
mit Mühe konnte der eher schmächtige Nikolaus die beiden Riesen bändigen.
Zitternd vor Angst stotterten wir unser Sprüchlein auf, aber der Nikolaus ließ
auf seinen Segen warten. Erst nach einem frommen Lied, gemeinsam von allen
Anwesenden gesungen – sogar die grimmigen Russen brummten wie Bären die Melodie
mit – stimmten ihn milde, erst danach verteilte er seine kärglichen Gaben. Karli,
Ilse und ich saßen erschöpft im Schatten des Kachelofens, während sich das Trio
mit Gebrumm und Türenschlagen aus dem Haus entfernte.
In den zwei Wochen vor dem Heiligen Abend waren wir die beiden bravsten Buben im
Gäu. In den
Ställen fütterten wir die Kühe, striegelten die
Rösser, schleppten Reisig und Holz für die Herde des Hauses. Alles willig du
ohne Widerrede, wohlgefällig von den Erwachsenen betrachtet. Nur Eugen
verspottete uns gezielt: „Ihr Saububen, ihr müsst schon ein wenig länger brav
sein um vom Christkindl einen Eisstock zu bekommen.“ Schadenfroh grinste er über
unsere verunsicherten Gesichter. Wir ärgerten uns jetzt, dass wir ihm unseren
Wunsch beim gemeinsamen Füttern der Rösser offenbart hatten.
24. Dezember 1944. in den Tagen zuvor war es still geworden über dem
Alpenvorland. Die amerikanischen Bombergeschwader aus Italien, die hoch am
Himmel gegen Norden flogen, ihre todbringende Last über den großen Städten
Bayerns abwarfen, ehe sie knapp eine Stunde später ihre Kondensstreifen nach
Süden zogen, blieben aus. „An Weihnachten ruhen sich auch die Soldaten aus,
Buben,“ meinte Eugen wichtig. Er drückte sich mit uns auf dem Hof herum. Stube
und Flur waren verschlossen, nur zugänglich jenen geheimnisvoll wirkenden
Helfern, die dem Christkindl seinen Weg ins Haus ebneten.
Dann kam jene Stunde erwartungsvoller Gespanntheit. Die Zeit nach dem Füttern
und Melken,
die Zeit vor dem Gebimmel der Vesperglocke auf dem
First, die dreimal anschlug bevor die Tür
zur Stube aufgestoßen wurde und der Lichtschein
des Christbaums herausfiel auf den Kachelboden
des Flurs. Wir scharrten derweil mit den Füßen,
sauber gekämmt, mit frisch gewaschenem Hals uns ebenso unbehaglich in unseren
Sonntagskleidern fühlend wie die beiden Russen, welche in den
Anzügen der gefallenen Söhne der Bäuerin steckten.
Nanni stutzte den Russen noch geschwind die Fingernägel, was jene mit gequältem
Grunzen über sich ergehen ließen. Wir Kinder mussten darüber so lachen, dass wir
das Aufstoßen der Tür versäumten. Erst als der Abglanz der Kerzen auf unsere
Gesichter fiel, sammelten wir uns zu dem vorgeschriebenen würdevollen Einzug.
Voran Ilse,
danach Karli und ich, hinter uns die Russen,
danach die Töchter der Bäuerin, Eugen in seiner Tracht, schließlich meine Mutter
und die Patronin. Während wir Kinder auf dem Boden knieten und unsere kärglichen
Geschenke bewunderten, standen die Frauen still hinter uns. Die Frauen weinten
alle,
es war die sechste Kriegsweihnacht ohne ihre
Männer und Brüder. „Der Krieg ist verloren!“ Mutter Mühlhauser sprach diesen
schicksalsschweren Satz eher beiläufig in die besinnliche Stille
dieses Abends. „Alles Beten hat nichts geholfen,
eure Brüder sind umsonst gefallen,“ die Augen
der Bäuerin schauten trübe und es klang tiefe
Bitternis in ihrer Stimme mit. Sie wusste, alle in
der Stube Versammelten würden darüber schweigen.
„Kommt ihr Buben, wir möchten essen,“ rief Nanni. Wir hörten nicht hin, wir
lagen vor dem
Christbaum, unsere Gesichter zeigten die erlittene
Enttäuschung. „Hast du gehört was die
Oma gesagt hat? Alles Beten hat nichts geholfen!
Auch bei uns nicht. Und ich hab’ mir so arg einen Eisstock gewünscht.“ Karli
sagte es mehr zu sich selbst. „Ja und ich erst, meinst du ich weniger?“
entrüstete ich mich. „Kommt ihr jetzt, ihr Buben, wir warten schon, die Suppe
wird kalt,“ rief Nanni
aus der Küche. „Wir möchten keine Suppe,“
antworteten wir. „Vielleicht schaut ihr euch die Suppe
erst einmal an, die ihr euch da eingebrockt habt,“
Nanni blinzelte verheißungsvoll mit den Augen.
Als wir an den riesigen Tisch kamen, an diesem Abend für elf Leute eingedeckt,
wurde es ganz still.
Auf unseren Tellern stand je ein Eisstock, in
makellosem Eschenweiß, der Griff oben geschwungen,
zum Ende sich leicht verdickend, lackiert mit
farblosem Lack, mit einem schwarz eingebrannten
Ring aus Schmiedeeisen.
„Gell, da schaust, Saupreuß evangelischer!“ Alex wunderte sich so sehr über sein
perfektes
Deutsch, dass er sich verschluckte und nicht
mitlachen konnte über mein fassungsloses
Bubengesicht. Er hustete und hustete zwischen das
Gelächter, welches nun mehr ihm galt
als mir, da fasste ich Mut und lachte aus vollem
Herzen mit.
Aus : "Mein Elternhaus 1993".
© 2005 Helmut Büchler |