Gedenktag
Schweigende Hügel aus Erde,
ein Windhauch kommt, durch ihn ein Zweig knarrt.
Der Hauch geht, Schweigen.
Keine Spur.
Die Erde ist schwer von Feuchtigkeit und kalt. Der Friedhof liegt im fahlen Grau
dieses Morgens.
Die Luft riecht nach der herben Süße der Blumen auf den Gräbern und nach dem
Harz der Fichten des dunklen drohenden Waldes im Hintergrund, der ohne
besonderen Kontrast seiner Konturen in die Wolken übergeht.
Es ist auf eine merkwürdige Art still. Totensonntag. Ich stehe vor dem Grab des
Freundes.
Fröstelnde Einsamkeit umfängt mich, auch Trauertage haben ihr Reglement, so früh
ist man noch
allein, kann Zwiesprache halten, von keinem Besucher gestört, unbeobachtet.
Während ich stehe, mit offenen Augen mich träumend erinnernd, fällt mir ein Satz
von
Marie Luise Kaschnitz ein: „Ein Toter sei überall oder nirgends , und dass man
Schmerz über sein Nichtmehrdasein an jedem oder an keinem Tage, aber gewiss
nicht an einem durch den Kalender festgelegten empfände.“
Manifestiert sich im offiziellen Gedenktag die Unfähigkeit des Menschen zu
trauern?
Ich finde keine Antwort darauf.
Bilder ziehen an mir vorüber, Gedanken, Erinnerungen an ein Paradies, an ein
Traumland.
Wo sind die Tage, die Sonne, die Wärme, sein Lachen, sein Atem geblieben?
Statt dessen Kühle, der Ernst des Tages, Nachdenklichkeit über die Endlichkeit
unseres
Daseins, Ehrfurcht.
Doch auch diese Stunde ist Gewinn, ich möchte sie nicht missen.
Ein Windhauch kommt, durch ihn ein Zweig knarrt.
Der Hauch geht, Schweigen.
Keine Spur?
© Pitt. H.
Büchler
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