Schmerzliche
Erinnerung
Mutter reißt das vergilbte Hitlerbild von der Wand, als wir die verwahrloste
Kammer betreten.
Sie zertritt das Foto wie ein ungezogenes Kind.
"Hier besucht uns kein verdammter Nazi mehr und verpfeift uns. Hier haben schon
vor uns
Flüchtlinge gehaust!" wütet sie. Meine Tante zuckt
zusammen. Stumm sammelt sie die
Glasscherben auf einen Haufen.
"Die Russen sollen schon kurz vor Torgau stehen. Gott beschütze uns! Wenn nur
Vater bei
uns wäre!" Mutters Züge erstarren zu Stein.
Als Fünfjährige weiß man nicht so recht, warum man ständig still sein und sich
verstecken muss.
Die Kieselsteinecke auf dem verwüsteten Hof lockt mich immer wieder zu
heimlichem Spiel.
Lehmbeschmierte Stiefel stehen am Frühlingsmorgen vor meinem Buddelhaufen.
Ich sehe hoch zu einem bärtigen Soldatenriesen.
Entsetzen steht im Gesicht meiner Mutter, als sie herbeistürzt, die Arme nach
mir ausstreckt.
Der Gewehrlauf stößt sie in Richtung Holzschuppen.
"Dawei, dawei, Matka!"
Mutter stolpert in ihren selbstgemachten Pantoffeln vorwärts. Ich erwische ihren
Schürzenzipfel.
"Mama, Mama, nimm mich mit!"
"Hau ab! Lauf weg! Nicht das Kind!" schreit sie, reißt meinen Arm von ihrer
Kleidung.
Meine Kinderhand klammert sich an den Eingangspfosten, die Tür schwappt gegen
die Finger. Ein markerschütternder Schrei zerreißt
den Himmel, nimmt mir die Luft zum Atmen.
Die Ohrfeige aus Männerhand klatscht Mutter zu Boden. Zwei kräftige Arme
heben meinen schmerzgebäumten Mädchenkörper in die
Luft und schütteln ihn.
Stechende Bartstoppeln und rissige Lippen furchen
durch das nasse Kindergesicht, küssen
verschwitzte Stirnlöckchen und wassergefüllte
Augen. Die Angst lässt es feucht und
warm meine schmächtigen Beinchen hinunterrinnen.
In der Hocke setzt mich der Fremde auf seinen Oberschenkel und schaukelt
mein Schluchzen in
ertragbare Lautstärke.
Es riecht schnapskotzig, als er mein blau angelaufenes, geschwollenes Händchen
bepustet.
"Pscht, pscht, Dewotschka!...... Charascho, charascho!"
Abrupt schiebt er mich an den zitternden Körper meiner Mutter, stößt russische
Flüche aus -
und verschwindet.
Unsere Wangen kleben heiß aneinander. Die Tränen verschmelzen zu einem salzigen
Fluss der Erleichterung.
© Jutta Kieber 1999
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