aus dem Buch „Zwei Seiten“ (Geest-Verlag) und „Bördegeschichten“ (Engelsdorfer
Verlag)
Und eines Tages bin ich wieder
da ...
Kindliche Freude und Beklemmung umarmen mich in
einer wohltuenden Mischung, empfangen mich
nach Jahrzehnten auf diesem Fleck Erde.
Ich stehe vor dem einstigen Anwesen meiner Großeltern, weit abgelegen vom Dorf
Hohenwarsleben in der Hohen Börde. Ein sonniger
Spätsommertag streift durch ein menschenleeres
Feld. Nichts stört den Weg meiner Blicke in
Richtung Magdeburg, schemenhaft als ferne Silhouette
zu erkennen. Weit und frei das Land rundherum,
durchatmend in ruhigen Linien und Wellen.
Gepflegte Endlosfurchen fruchtbarer Bördeäcker. Die Farben der Felder fließen
gehorsam ineinander
Linien werden eingehalten, perspektivisch genau,
bilden faszinierende geometrische Formen.
Das Land wirft keine Schatten, saugt das volle
Licht des Tages gierig in sich auf.
Inmitten dieser endlosen Weite, fast erdrückt von der geordneten Struktur der
Felder, öffnet
sich vor mir ein Stück Wildnis. Verwahrlost,
unüberschaubar, chaotisch.
Lüttichs Tonkuhle nannte man es damals. Ich kenne nicht die heutige Bezeichnung
für das
vergessene Stück Boden, das sich auf etwa zwei
Hektar ausbreitet. Ein Stückchen urbildliche Welt,
ein Abschnitt selbst gebahnter Natur.
Die natürliche Stille des Ortes wirkt auf mich wie Balsam. Meine Lungen saugen
die Landluft ein. Verwirrendes Glücksgefühl schafft sich in der Seele Raum.
Rückschau in die Blicke meiner Kinderwelt.
Mein Mann teilt mir mit, dass er einen großen Spaziergang machen wird, will das
verwilderte Areal abschreiten bis zumFeldrand. Er ahnt meinen Wunsch nach
ungestörter Erinnerung.
Ich nicke, bin dankbar. Jetzt kein Gespräch, keine Worte, keine Erklärungen.
Kindheit, von der
mich das Leben schon so lange und so weit hinweg
getragen hat, sucht nach Zwiesprache.
Mit verhaltenen Schritten betrete ich das seit vielen Jahren verlassene,
ungepflegte Gelände.
Jedes Gestrüpp scheint mich stumm vertraut zu
begrüßen. Die vor Kriegsende angepflanzten
Obstbäume an den Hängen der großen Senke, in der
einst Ton abgebaut wurde, recken nun
ungebremst ihren Querwuchs in den Himmel. Knorrig
verstimmt lassen sie sich einsperren durch
Fremdwuchs und Verfilzung, durch wilden Strauch
und in die Höhe geschossenes Kraut.
Sonnenstrahlen flimmern durch bemoostes Geäst,
schaukeln in jedem trockenen Halm und tanzen
in belaubten farbigen Büschen, strömen mir
kindbekannte Wärme entgegen.
Kleine gelbe Kugeln eines schrumplig vergreisten Mirabellenbaumes locken zum
Probieren. Köstlich
süß am Rand, essigsauer am Kern.
Da ist er wieder, der Geschmack der Kindheit auf der Zunge. Da sind sie, die
Gerüche von einst.
Ich sauge ihn ein, den Duft der bewachsenen Erde,
der samenden Pflanzen und vergorenen Früchte –
das Aroma meiner Kinderwelt.
Die Erinnerung hockt sich zu mir auf einen getrockneten Grashuckel, ist seltsam
zersplittert,
doch in manchen Scherbenstücken vollständig,
glitzert – einem geputzten Spiegel gleich.
Eine schlanke Spinne mit ihren überlangen Beinen
schreitet vorsichtig über meinen Arm. Ein Lächeln durchzieht mein Gesicht,
blättert gedanklich die Kindheit auf.
Großmutter huscht wie hinter Milchglas durch meine Rückschau.
Schwach lebt sie in meinen Erinnerungen. Diese zerbrechlich wirkende kleine Frau
hatte
16 Kinder geboren. Nur eine Hand voll ist ihr
geblieben bis zu ihrem Tod im 72. Lebensjahr.
Meine Mutter ihre Erstgeborene. Das betonte sie
immer mit Stolz in den Augen.
Großvater aber baut sich wie eh und je mächtig auf. Massiv und unumstößlich
nimmt er seinen
Platz in meinem Gedächtnis ein. Immer noch wie ein
Lehrmeister, als wolle er mich gerade jetzt
daran erinnern, dass uns etwas ganz Besonderes
miteinander verbindet: Die Stunde seines Todes
in meinem kindlichen Beisein.
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