Es geschah um die Jahrtausendwende. Die englische Zeitung „Daily Miracles“
brachte als erste die
Meldung: “Ein Goldfisch ist in Northampton durch einen Schornstein auf die
glühenden Kohlen eines
offenen Kamins gefallen, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen. Unserem
Reporter
Julius Rastemgarski schilderte Mr. Edward Wishwash sein Erlebnis:
Ich beteiligte mich gerade am interaktiven Fernsehquiz und knobelte über die
Jackpotfrage:
Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach? Da wird mein Denkprozess jäh unterbrochen. Aus
der Feuerung
meines Kamins höre ich ein klatschendes Geräusch, dann ein Zischen. Ich lasse
den Jackpot sausen.
Schaue nach und sehe auf der fast erloschenen Kohle einen Goldfisch. Erst denke
ich, na prima,
Fisch ist gut für die grauen Zellen, ohne Phosphor kein Gedanke. Aber wie ich
noch die Zubereitung überlege, sehe ich, dass der Fisch den Schwanz bewegt. Ich
verstehe die Message sofort:
Er lebt noch! Hebe ihn vorsichtig mit der Kohlenzange hoch, renne damit zur
Küche, werfe
Goldy in ein Einweckglas, dann – Wasser, marsch! Was sage ich: Der Mini-Flipper
fängt sofort an,
in dem kleinen Swimmingpool seine Kurven zu drehen. Putzmunter und nur leicht
angesengt.
Auch waren da noch ein paar Kratzer, die ich mir nicht erklären kann. Und
überhaupt frage ich mich:
Wie kommt ein Goldfisch – ich nenne ihn übrigens Phoenix – wie kommt das Tier in
meinen Kamin?”
Diese Frage verdrängte alle anderen Schlagzeilen aus den Medien des ausgehenden
Jahrtausends.
Das Rätsel um Phoenix wurde Tages- und Nachtgespräch. Wer bemühte sich nicht
alles, das
Geheimnis zu lösen oder wenigstens eine plausible Vermutung zu finden! Es
dauerte nicht lange,
da konnte „Daily Miracles“ titeln: “Europa im Goldfischfieber!” Ein
Meeresbiologe meinte, es müsse
sich bei Phoenix um eine Art fliegenden Fisch handeln, eine Mutationsform.
Luftfahrtexperten
konnten darüber nur müde lächeln. Ein Verhaltensforscher, der Phoenix monatelang
beobachtete,
konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, nur dass seine Kratz- und
Brandwunden allmählich
verheilten. Millionen Fernsehzuschauer verfolgten Phoenix tagtäglich in einer
Sondersendung live.
Es wurden Wetten abgeschlossen, wann er wieder einmal fliegen würde. Aber er
blieb bei der ihm angeborenen Bewegungsweise. Wieso er einmal geflogen war,
blieb rätselhaft. Tierpsychologen
vermuteten, der Fisch habe bei seinem spektakulären Flug unter dem Einfluss von
Hypnose
gestanden. Andere argwöhnten, er sei mit bewusstseinserweiternden Drogen
gefüttert worden,
worauf er unter der Suggestion, ein Vogel zu sein, wahnsinnige Kräfte entwickelt
habe. Übersinnliche Fähigkeiten wurden Phoenix auf einem Esoterik-Kongress
zugesprochen, wo man davon
überzeugt war, dass sein Astralkörper unter dem Einfluss einer günstigen
Sternkonstellation
die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben und Phoenix zu einer, wenn auch
kurzfristigen, Elevation
verholfen habe. Computerfachleute errechneten aerodynamische Kurven, simulierten
den Flug des
Fisches, stießen aber immer wieder an die Grenzen mathematisch-physikalischer
Gesetze. Indes
diskutierten im Vatikan zu Rom angesehene Theologen, ob man den Flug des
Wasserwesens nicht
als ein Wunder anerkennen solle, zumal bereits in frühchristlicher Zeit der
Fisch als ein Symbol
für den Glauben gegolten habe. Tier- und Umweltschützer hingegen veranstalteten
Protestaktionen
gegen den Rummel um Phoenix. Tausende gingen auf die Straße und forderten mit
Sprechchören
und auf Transparenten: “Freiheit für Goldy!”. Kurz und gut: Um Phoenix und
seinen sensationellen
Flug ging es nicht nur in der Regierungserklärung des Premierministers, um ihn
rissen sich
Werbeagenturen und Sponsoren, T-Shirts mit seinem aufgedruckten Emblem gingen
weg wie
warme Semmeln, es gründeten sich Phoenix-Fan-Clubs, Phoenix-Aktien waren der
große Renner,
um die Filmrechte gab es Prozesse, ja es soll fanatische Verehrer gegeben haben,
die seinen Flug nachahmen wollten. Nur wenige überlebten.
Das alles ging an Phoenix spurlos vorbei. Er drehte seine Runden im
Luxusaquarium und wurde
immer fetter. Und während sich die Theorien um seinen Flug überschlugen, saß der
junge
Phoenix-Entdecker Edward Wishwash eines Tages mit seinem Nachbarn, dem
Frührentner und
Hobbygärtner William Laughloud, beim Whisky und vernahm dessen Version der
Geschichte,
auf die noch keiner gekommen war. Es erschien den beiden Gentlemen indes
vernünftig, sie für
sich zu behalten. Nie würden sie es übers Herz bringen, den Mythos um Phoenix zu
zerstören.
Auch wollte man nicht Tausende von Schulkindern enttäuschen, die Tag für Tag mit
ihren
Lehrern zu Goldy pilgerten, um das Staunen zu lernen.
Phoenix und mit ihm die ganze Goldfischspezies wurde zum Tier des Jahrhunderts
ernannt.
Er starb noch vor der Milleniumswende an Überfütterung, wurde betrauert,
präpariert und im
Museum of Natural History ausgestellt. Mr. Wishwash‘s Haus in Northampton steht
heute unter Denkmalschutz, die Statue davor zeigt Phoenix überlebensgroß in
Bronze gegossen.
Oft sitzen Edward und William im Schatten der Statue und erzählen den
Besuchergruppen immer
wieder die tollsten Storys vom fliegenden Fisch. Hin und wieder droht William
mit himmelwärts
ausgestreckter Faust einem Reiher, wenn dieser wieder mal über Williams
Goldfischteich und
Edwards Schornstein seine raublustigen Kreise zieht, und ruft ihm zu:
„Never again, old Boy, never again!“
© Wilhelm Hasse
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