Startseite

Gedichte

Kurzgeschichten

Autoren
►  Bär, Christine
►  Bansen, Bruno
►  Büchler, Helmut
►  Hadulla, Werner
►  Hasse, Wilhelm
►  Hohmann, Ulli
►  Karst, Claus
►  Kieber, Jutta
►  Kriegler, Harald
►  Menard, Lutz
►  Mößner, Bernhard
►  Müller, Hendrik
►  Paffrath, Günther
►  Possehl, René M.
►  Spröhr, Inge

Karikaturen

FORUM

LESERMEINUNG

Kontakt

Impressum

Autorentreffen

KlapphornClique

 

Prosa von Wilhelm Hasse

Kurzgeschichte
Seiten: Gedichte Gedichte Prosa Prosa Prosa    

 

Der Fliegende Goldfisch

 

 

 

Es geschah um die Jahrtausendwende. Die englische Zeitung „Daily Miracles“ brachte als erste die

Meldung: “Ein Goldfisch ist in Northampton durch einen Schornstein auf die glühenden Kohlen eines

offenen Kamins gefallen, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen. Unserem Reporter

Julius Rastemgarski schilderte Mr. Edward Wishwash sein Erlebnis:

Ich beteiligte mich gerade am interaktiven Fernsehquiz und knobelte über die Jackpotfrage:

Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach? Da wird mein Denkprozess jäh unterbrochen. Aus der Feuerung

meines Kamins höre ich ein klatschendes Geräusch, dann ein Zischen. Ich lasse den Jackpot sausen.

Schaue nach und sehe auf der fast erloschenen Kohle einen Goldfisch. Erst denke ich, na prima,

Fisch ist gut für die grauen Zellen, ohne Phosphor kein Gedanke. Aber wie ich noch die Zubereitung überlege, sehe ich, dass der Fisch den Schwanz bewegt. Ich verstehe die Message sofort:

Er lebt noch! Hebe ihn vorsichtig mit der Kohlenzange hoch, renne damit zur Küche, werfe

Goldy in ein Einweckglas, dann – Wasser, marsch! Was sage ich: Der Mini-Flipper fängt sofort an,

in dem kleinen Swimmingpool seine Kurven zu drehen. Putzmunter und nur leicht angesengt.

Auch waren da noch ein paar Kratzer, die ich mir nicht erklären kann. Und überhaupt frage ich mich:

Wie kommt ein Goldfisch – ich nenne ihn übrigens Phoenix – wie kommt das Tier in meinen Kamin?”

Diese Frage verdrängte alle anderen Schlagzeilen aus den Medien des ausgehenden Jahrtausends.

Das Rätsel um Phoenix wurde Tages- und Nachtgespräch. Wer bemühte sich nicht alles, das

Geheimnis zu lösen oder wenigstens eine plausible Vermutung zu finden! Es dauerte nicht lange,

da konnte „Daily Miracles“ titeln: “Europa im Goldfischfieber!” Ein Meeresbiologe meinte, es müsse

sich bei Phoenix um eine Art fliegenden Fisch handeln, eine Mutationsform. Luftfahrtexperten

konnten darüber nur müde lächeln. Ein Verhaltensforscher, der Phoenix monatelang beobachtete,

konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, nur dass seine Kratz- und Brandwunden allmählich

verheilten. Millionen Fernsehzuschauer verfolgten Phoenix tagtäglich in einer Sondersendung live.

Es wurden Wetten abgeschlossen, wann er wieder einmal fliegen würde. Aber er blieb bei der ihm angeborenen Bewegungsweise. Wieso er einmal geflogen war, blieb rätselhaft. Tierpsychologen

vermuteten, der Fisch habe bei seinem spektakulären Flug unter dem Einfluss von Hypnose

gestanden. Andere argwöhnten, er sei mit bewusstseinserweiternden Drogen gefüttert worden,

worauf er unter der Suggestion, ein Vogel zu sein, wahnsinnige Kräfte entwickelt habe. Übersinnliche Fähigkeiten wurden Phoenix auf einem Esoterik-Kongress zugesprochen, wo man davon

überzeugt war, dass sein Astralkörper unter dem Einfluss einer günstigen Sternkonstellation

die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben und Phoenix zu einer, wenn auch kurzfristigen, Elevation

verholfen habe. Computerfachleute errechneten aerodynamische Kurven, simulierten den Flug des

Fisches, stießen aber immer wieder an die Grenzen mathematisch-physikalischer Gesetze. Indes

diskutierten im Vatikan zu Rom angesehene Theologen, ob man den Flug des Wasserwesens nicht

als ein Wunder anerkennen solle, zumal bereits in frühchristlicher Zeit der Fisch als ein Symbol

für den Glauben gegolten habe. Tier- und Umweltschützer hingegen veranstalteten Protestaktionen

gegen den Rummel um Phoenix. Tausende gingen auf die Straße und forderten mit Sprechchören

und auf Transparenten: “Freiheit für Goldy!”. Kurz und gut: Um Phoenix und seinen sensationellen

Flug ging es nicht nur in der Regierungserklärung des Premierministers, um ihn rissen sich

Werbeagenturen und Sponsoren, T-Shirts mit seinem aufgedruckten Emblem gingen weg wie

warme Semmeln, es gründeten sich Phoenix-Fan-Clubs, Phoenix-Aktien waren der große Renner,

um die Filmrechte gab es Prozesse, ja es soll fanatische Verehrer gegeben haben, die seinen Flug nachahmen wollten. Nur wenige überlebten.

Das alles ging an Phoenix spurlos vorbei. Er drehte seine Runden im Luxusaquarium und wurde

immer fetter. Und während sich die Theorien um seinen Flug überschlugen, saß der junge

Phoenix-Entdecker Edward Wishwash eines Tages mit seinem Nachbarn, dem Frührentner und

Hobbygärtner William Laughloud, beim Whisky und vernahm dessen Version der Geschichte,

auf die noch keiner gekommen war. Es erschien den beiden Gentlemen indes vernünftig, sie für

sich zu behalten. Nie würden sie es übers Herz bringen, den Mythos um Phoenix zu zerstören.

Auch wollte man nicht Tausende von Schulkindern enttäuschen, die Tag für Tag mit ihren

Lehrern zu Goldy pilgerten, um das Staunen zu lernen.

Phoenix und mit ihm die ganze Goldfischspezies wurde zum Tier des Jahrhunderts ernannt.

Er starb noch vor der Milleniumswende an Überfütterung, wurde betrauert, präpariert und im

Museum of Natural History ausgestellt. Mr. Wishwash‘s Haus in Northampton steht heute unter Denkmalschutz, die Statue davor zeigt Phoenix überlebensgroß in Bronze gegossen.

Oft sitzen Edward und William im Schatten der Statue und erzählen den Besuchergruppen immer

wieder die tollsten Storys vom fliegenden Fisch. Hin und wieder droht William mit himmelwärts

ausgestreckter Faust einem Reiher, wenn dieser wieder mal über Williams Goldfischteich und

Edwards Schornstein seine raublustigen Kreise zieht, und ruft ihm zu:

„Never again, old Boy, never again!“

© Wilhelm Hasse

 

 

zurück

nächste Geschichte