Fiktiver
Tagebuch-Eintrag von Thomas Mann
Gestern mit später Post
befremdliche Anfrage von X.: Solle ihm etwas über die Insel Sylt schreiben im
Style „Reif für die Insel“, da ich schon mehrfach dortselbst geweilt.
Ungeachtet der Zumutung, mir im Schöpferischen einen Zwang zur Beschränkung zu
wollen, dem Gedanken beim gegenwärtigen ennui doch etwas Anregend-Angemessenes
abgewonnen: Wer anders
als ich vermöchte der verborgenen
profondeur dieses so oberflächlichen Eilandes das Schicksalhafte abzugewinnen,
im Aufeinanderprallen der Wogen den ewigen Kampf der Urgewalten im Menschen zu
erlauschen?
Beim gestrigen abendlichen Mahl im Angesicht des zur Gänze servierten Fisches
(ordinärer Hering!), vorzüglich des elegant geschwungenen Fischschwanzes, ins
Sinnen geraten über jene Tage, die ich mit K.H. einst in Kampen verbrachte.
Reflektiert, ob sich nicht aus dem Eindringlichen mancher Erfahrung im Verein
mit der ‘Unschuld’ der Naturphänomene und diesem Eiland, das die innere wie
äußere Reifwerdung beschleunigt, ein Drama titanischen Ausmaßes entwickeln
ließe.
Denke an Arbeitstitel wie „Vom Winde verweht“ oder „Des Meeres und der "Liebe
Wogen“, bin mir aber nicht ganz gewiss, ob ich dies nicht irgendwo schon gelesen
... Ein leichtes Helles zum Fisch - köstlich gemundet!
Heute, nach einem frühzeitigen petit déjeuner im Café (Mokka; dazu ein
vorzügliches Rosinenbrötchen, serviert von einem zartgliedrigen Pagen...)
denselben Morgen noch eine leichte Promenade unternommen.
Jene Anregung verfolgt mich weiter und bringt dem Schaffensprozeß dienliche
Erinnerungen hervor. Dachte an die Promenade mit K.H. am Ufersaume von Sylt, -
beide mit bloßen Füßen auf der Grenzlinie schreitend, da sich das weiche Land
dem Ansturm des überwältigenden Meeres ergibt. Placken von Gischt spritzten bis
an unsere Beinkleider empor und formten mich seltsam anmutende Flecken unterhalb
des Bundes... K.H. ungeheuer erregt - offenbar eines Satzes wegen, den ich
soeben gesagt. Verstand soviel, daß er darin die essentia dieses Augenblickes,
die Harmonie von Kunst und Natur eingefangen sah. Konnte ihm nicht
widersprechen. Ja, seine instinctive Lucidität in der Anerkenntnis meiner
Schöpferkraft ebenso wie der des Weltenschöpfers scheint mir sein ungemein
feines Gefühl für Größe, das ich schon öfter beobachtete, auf das angenehmste zu
bestätigen. Entsetzlich nur, daß ich jene
Phrase bis heute nicht erinnere. Hätte der nucleus meines opus sein können...
Im Anschluss an den Frühgang außerordentlich erleichternder Stuhlgang.
Der Anblick des verwandelten Fisches gestrigen Abends gemahnt melancholisch an
die Metamorphose alles Seienden - sit! Auch das Helle geht dahin!
Allusion der Insel, dieweil ich die Hand von Franz (so der Name des Pagen - o
Gott!) auf seinem Oberschenkel ruhend betrachte: Sein überlängter Zeigefinger,
der unmittelbar aus dem schmalen Unterarm zu erwachsen scheint, zusammen mit
dem lässig zu Seite gewölbten übrigen Handballen
lassen mich an die Silhouette von
Sylt denken. Mir ist’s, als winke dieses Gebilde dort hoch im Norden
all denen, die wie ich das
Mysterium des Menschlichen zugleich mit dem Geheimnis des Natürlichen zu
ergründen und in Kunst und Literatur auszudrücken suchen... Es verwundert
mich nicht, daß dieser Flecken Künstler aller Gattungen anzieht. Werde der Insel
mit meinem Beitrage
ein unsterbliches Denkmal setzen!
Mittags zu ruhen versucht. Der Ansturm der nicht abweisbaren Gedanken zu Sylt
wühlt mein Inneres jedoch auf. Ob ich mich verriet, als ich damals ins Gästebuch
des Hotels den Satz eintrug: „An diesem erschütternden Meere habe ich tief
gelebt.“!? Dabei liebte ich doch das Meer aus dem Ruheverlangen des schwer
arbeitenden Künstlers, der vor der anspruchsvollen Vielheit der Erscheinungen an
die Brust des Einfachen, Ungeheuren sich zu bergen begehrt. Und doch lenkte mich
der Insel-aufenthalt von der in Worte gekleideten Kunst ab zum nackten einfachen
Leben.
Ich schäme mich, nichts geleistet zu haben; außer unförderlichen Kleinigkeiten
ist nichts zustande gekommen.
Da ich dem Mittagsmahle wenig zugesprochen, eine reife Banane aus der
kristallenen Obstschale genüßlich verzehrt. Erregende Visionen wollten nicht
weichen. Kampf mit mir.
Daß dies nie endet! Das hält offenbar aus bis zum letzten Seufzer...
Malheur, als ich auf der achtlos beiseite gelegten Bananenschale ausglitt und
unsanft mit dem Hintertheile auf dem Boden mich wiederfand.
Zur Ablenkung nach einer jener Illustrierten gegriffen, die jetzt allerorten
produziert werden, um dem vulgären Geschmack des Plebs Nahrung zu bieten. Fand
in einem Artikel eine absurd überzogene Thesis über die sexuelle Tönung alles
Erlebens.
Entweder töricht oder nur für jene gültig, die nicht wie der Künstler einer
tieferen Anstrengung des Geistes fähig sind. Dazu noch eine (recht harte) Banane
verspeist. Sehr deliziös! Verstehe allerdings nicht, warum die Erregung nicht
weicht...
Fühle mich in letzter Zeit außerordentlich überreizt und über-erregt. Woher
dies? Merke außerdem
einen gewissen tauben Schmerz am
Gesäß, der mich an höheren Aufschwüngen des Geistes hindert.
Wie viele große Werke mögen durch
solch menschlich-allzumenschliche Petitessen an der Entstehung gehindert sein?
Im Niederschreiben glänzende Idee: Beschäftigung mit den Sylter Erinnerungen
imaginiert wieder den großen weichen Wind, das Raubtiermäßige der Wellen und den
sanften Donner der Brandung, nach
deren Prankenschlägen ich mich all
die Jahre zurücksehnte... Werde X. bezüglich gestriger Anfrage umgehend
telegrafieren:
„Aufbreche binnen kurzem nach Sylt - Anschrift wie gewöhnlich Hotel Kliffende -
Von dort demnächst Essay: Reif für die Insel! - Ergebenst Ihr Thomas Mann!“
|