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Wie Pille zu seinem Namen kam
Ich
wäre ein schlechter Geschichtenerzähler, würde ich nicht auch einmal eine
Geschichte für Kinder und solche, die es geblieben sind, erzählen, und deshalb
berichte ich gerne von Pille, der eigentlich Heiner hieß, und dem Ereignis, wie
er zu seinem Namen kam. Es ist eine wahre Geschichte, eine Geschichte, die ich
selber als kleiner Junge miterlebt habe.
Es wird
manchem Leser vielleicht schwer fallen, diese Geschichte in ihrer ganzen
Tragweite zu verstehen, denn die Zeit, in der sie spielt, ist vielen nicht mehr
im Gedächtnis oder sie haben noch gar nicht gelebt. Aber gerade deswegen sollte
diese Episode der Nachwelt erhalten bleiben.
Heutzutage wird fast allen Kindern in unserem Wohlstandsland jede Bitte erfüllt,
sie bekommen fast jedes Spielzeug, das sie sich wünschen. Doch es hat einmal
eine Zeit gegeben, und die ist gerade mal 60 Jahre her, da herrschte Krieg in
Deutschland. Das Land war zerstört und viele Häuser zerbombt, wie wir heute fast
täglich in den Fernsehnachrichten aus anderen Ländern beobachten können. Viele
Familien waren auseinander gerissen, die Väter und Brüder als Soldaten im Krieg
gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Viele Familien hatten kein Zuhause
mehr, hatten alles Hab und Gut verloren und wussten oft nicht, wovon sie leben
sollten.
Heiner
und seine Familie hatten mehr Glück gehabt als die meisten. Sein Vater war schon
bald nach dem Krieg – zwar verwundet, aber immerhin lebend – heimgekehrt.
Während des Krieges hatte Heiner mit seiner Mutter außerhalb einer großen Stadt,
die völlig durch Bomben zerstört war, auf einem Bauernhof gelebt. Obwohl auch
sie ihr Zuhause verloren hatten, so hatten sie wenigstens zu essen.
Heiner
wuchs ohne Spielkameraden auf, denn auf dem Hof und in der näheren Nachbarschaft
wohnten ansonsten keine anderen Kinder. Es gab jedoch Pferde, Kühe, Hunde und
Schweine, die er allesamt mit Namen kannte. Sein Vater hatte ihm im nahen Wald
ein Baumhaus gebaut, in das er sich oft verzog, um den Tieren im Wald zuzusehen
oder dem Wind in den Blättern der Bäume zu lauschen. Heiner lernte die Natur
kennen, und wenn er etwas Neues entdeckte, fragte er die Erwachsenen so lange
aus, bis er die Neuigkeiten in sein Wissen einordnen konnte.
Heiners
Vater hatte eine große Leidenschaft: den Fußball. Jeden Samstagnachmittag
verkrochen sich seine Ohren in ein altes Radiogerät, einen Volksempfänger, wie
diese Geräte damals hießen, um sich die Fußballübertragungen aus dem Äther
anzuhören. Niemand durfte ihn dabei stören. Aber immer, wenn Vaters Verein,
Schalke 04, gewonnen hatte, war er hinterher gut gelaunt, und Heiner erhielt
einen Groschen, um sich davon Bonbons oder Kaugummi zu kaufen.
Als
Heiner in die Schule kam und immer neugieriger auf die Welt der Erwachsenen
wurde, fragte er seinen Vater, ob er mit ihm zusammen Radio hören dürfte. Sein
Vater freute sich über die Gesellschaft und erzählte ihm, was er beim Fußball
schon alles erlebt hatte und wie seine Helden Szepan, Kuzorra, Tibulski und wie
sie alle hießen mit ihrem berühmten Schalker Kreisel ihre Gegner schwindelig
spielten. Neugierig gemacht durch seines Vaters Erzählungen, entflammte in
Heiner nach und nach Neugier auf dieses Spiel, ja sogar ebenfalls eine Art von
Begeisterung, und der Wunsch, nicht nur im Radio Fußball zu hören sondern selber
zu spielen vermehrte sich von Mal zu Mal.
So
blieb es nicht aus, dass er sich zu seinem siebenten Geburtstag nichts
sehnlicher wünschte als einen Fußball, einen richtigen Fußball. Seine Mutter
wiegelte den Wunsch ab und befand: „Dafür haben wir kein Geld.“
Heiner
wurde ganz traurig und freute sich überhaupt nicht auf seinen Festtag. Doch als
der Tag gekommen war, lag unter dem Geburtstagstisch im Wohnzimmer ein großes,
in Buntpapier eingewickeltes Paket, auf das sich Heiner sofort stürzte. Er riss
es voller Spannung auf und fand darin … einen Ball, einen Fußball! Einen Fußball
mit schwarzen und weißen Flecken. Sofort rannte er damit nach draußen,
balancierte den Ball mit seinen Füßen und auf seinem Kopf und schoss ihn mangels
Spielkameraden gegen eine Mauer.
In der
Schule wurde sein Geburtstag gefeiert, wie immer, wenn jemand Geburtstag hatte.
Seine Lehrerin, die alte Frau Ostermann, die schon seinen Vater unterrichtet
hatte und deren Liebling er war, fragte: „Hast du denn auch was zum Geburtstag
bekommen?“
Und
noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, platzte es aus ihm heraus:
„Einen Fußball, einen richtigen Fußball!“
Nach
dieser Ankündigung waren die Jungen in der Klasse nicht mehr zu halten.
„Das
ist toll! Wir werden dich heute alle besuchen und mit dir spielen“, riefen sie
alle durcheinander, bis Frau Ostermann Ruhe gebot. Es blieb dabei, dass alle
kommen wollten, obwohl die meisten drei bis fünf Kilometer zu laufen hatten,
weil er so weit außerhalb wohnte. Aufgeregt lief Heiner nach der Schule heim und
rief schon von weitem: „Mama, Mama, heute Nachmittag kommen die Jungens, um mit
mir Fußball zu spielen.“
„Na,
fein“, sagte seine Mutter daraufhin, „dann werde ich mal schnell noch einen
Kuchen backen, damit ihr mir nicht verhungert.“
Pünktlich um drei Uhr sah Heiner seine Kameraden schon von weitem die Straße
herunter kommen. Paul, Nils, der freche Fritz, Egon, Lutzemann, Richard,
Peterchen und wie sie alle hießen. Sein Vater hatte – still und heimlich – auf
einem nahen Feld aus Bohnenstangen ein Tor zusammen gezimmert, sodass alle
Vorbereitungen für ein aufregendes Spiel getroffen waren. Doch es sollte anders
kommen!
Der
freche Fritz, der nicht ohne Grund so hieß und zu allem einen Kommentar abgeben
musste, nahm als Erster den Ball in die Hand und motzte: „Das soll ein Fußball
sein? Ein Fußball ist aus Leder und hat eine Schweinsblase innen drin! Das hier
ist ein Gummiball!“
Heiner
sank das Herz in die Hose, und seine Ohren verfärbten sich puterrot. Er hatte
keine Ahnung, wie ein richtiger Fußball aussah, und der Fritz spielte schon in
einem Verein, der musste das ja wissen. Doch die anderen Jungen sagten: „Der
Ball ist rund, und wir können damit spielen … Lasst uns also mit dem Spiel
beginnen!“
Fritz
übernahm wie gewöhnlich das Kommando und ordnete an: „Heiner und ich wählen die
Mannschaften.“
Großzügig gestand er zu: „Heiner darf anfangen, weil er Geburtstag hat.“
Sie
begannen zu spielen und hatten viel Spaß dabei, der noch größer wurde, als
Heiners Mutter mit dem Kuchen anrückte. Als sie jedoch etwa eine Stunde gespielt
hatten, prallte der Ball auf einen spitzen Stein, der sich durch die Hülle
bohrte und die Luft entweichen ließ. Sofort war Fritz mit seiner großen Klappe
zu vernehmen: „Hab ich doch gesagt, hier hast du deine Pille“, und er warf
Heiner die luftleere Pille vor die Füße.
„Pille,
Pille, Pille“, riefen die anderen Jungen wie ein Echo im Chor und zeigten auf
Heiner, der nun seinen Spitznamen weghatte, bevor sie sich auf ihren Heimweg
machten. Heiner sollte diesen Namen nie mehr loswerden!
Zurück
blieb ein ganz trauriger Junge, der die Welt nicht mehr verstehen wollte und
konnte. Er blieb noch lange alleine draußen sitzen, denn er wollte nicht, dass
seine Eltern seine Tränen sahen. Er kannte schon den Spruch: „Ein Indianerherz
kennt keinen Schmerz!“
Dann
ging er langsam hoch in die Wohnung, zeigte seinen Eltern den schlappen Ball und
sagte mit Tränen erstickter Stimme: „Das ist kein Fußball. Ein Fußball ist aus
Leder mit einer Schweinsblase innen, und so einen Fußball möchte ich haben.“
Davon,
dass seine Kameraden ihn gehänselt hatten, erzählte er nichts. Die nächste Woche
schwänzte er die Schule. Er schämte sich. Den ganzen Morgen setzte er sich in
sein Baumhaus und dachte nach, wie er es seinen Kameraden zeigen konnte. Als
Frau Ostermann sich nach einer Woche erkundigte, ob Heiner krank wäre, kam die
ganze Geschichte ans Tageslicht. Heiners Vater war die Sache richtig peinlich.
Aber er hatte nicht viel Geld. Dennoch kratzte er alles zusammen und kaufte
Heiner einen richtigen Fußball und noch eine Pumpe dazu. Heiners Augen strahlten
glücklich und die seiner Eltern ebenfalls.
Von nun
an sahen die Nachbarn Heiner nur noch mit dem Ball. Er malte Kreise auf die
Mauer wie die Löcher bei der Torwand im Fernsehen und versuchte immer wieder,
diese Punkte an der Wand aus allen Lagen zu treffen. Je mehr er übte, umso
sicherer traf er. Bald war er so weit, dass er nicht einmal mehr hingucken
musste. Auch übte er Tricks mit dem Ball wie die brasilianischen Straßenjungen,
und bald beherrschte er den Ball mit beiden Füßen, auch mit dem Kopf und konnte
unglaubliche Finten mit dem Ball vollführen.
Schließlich kam seine große Stunde. Seine Schule sollte gegen die Schule eines
anderen Stadtteils um die Stadtmeisterschaft spielen. Der Sportlehrer testeten
im Schulsportunterricht die Fähigkeiten der Jungen, besonders auch die von jenen
Jungens, die nicht in einem Verein spielten. Heiner, oder Pille, wie sie ihn
riefen, fiel auf und wurde als Mittelstürmer aufgestellt. 5:1 gewann seine
Mannschaft das Spiel, Heiner schoss drei Tore und bereitete die anderen beiden
vor. Er war der absolute Star dieses Spiels.
Der
Nachwuchstrainer des Fußballvereins hatte das Spiel beobachtet, konnte sich
nicht erinnern, jemals ein solches Talent entdeckt zu haben und nahm sofort
Kontakt zu Heiners Eltern auf, um zu vermeiden, dass ein anderer Vereine eher
auf Pille aufmerksam wurde.
„Der
Junge muss Fußball spielen!“, beschwor er Heiners Eltern, was seinen Vater mit
Stolz erfüllte, während seine Mutter weniger Begeisterung zeigte. „Der Junge
wird seinen Weg machen, wenn er gut geführt wird und fleißig trainiert.“
Bereits
im nächsten Spiel kam Heiner in der Vereinsmannschaft zum Einsatz und erzielte
das Siegtor. Und von da an begann Pilles Karriere ...
Pille
wurde ein guter und bekannter Fußballspieler, den die Zuschauer liebten ihn wie
einen eigenen Sohn. Von Paul, Nils, dem frechen Fritz, Egon, Lutzemann, Richard,
Peterchen und wie sie alle hießen hat man später nie mehr etwas gehört. Sie
saßen wahrscheinlich als Zuschauer oben auf der Tribüne, wo immer die besten
Trainer der Welt ihren Platz finden, die alles besser wissen und können,
jubelten über Pilles Tore und erzählten ihren Nebenleuten: „Den haben wir
entdeckt!“
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