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Der Mann mit dem sternfunkelnden Koffer
Völlig ahnungslos schlenderte ich
neulich durch den nahen Park, ein Buch unter dem Arm, um auf meiner
Lieblingsbank ein wenig zu lesen oder das Treiben im Park zu beobachten. Die
Sonne schien — trotz der frühen Jahreszeit — schon wärmend von einem blauen
Himmel, ein sanfter Wind raschelte in den Bäumen, und das Gezwitscher unzähliger
Singvögel erfreute mein Ohr. Viele Menschen, die ich im Park antraf, waren mir
bekannt, ebenso die meisten Kinder auf dem Spielplatz. Freundliche Grüße
wechselten hin und her, und die Befindlichkeiten wurden gut gelaunt
ausgetauscht. Doch dann machte mich ein Anblick stutzen. Auf der Bank, die ich
als die meinige betrachte und gewöhnlich wie ein Platzhirsch verteidige, saß ein
Mann — eine Unverfrorenheit, wie ich mit vollem Ernst befand —, ein Mann, den
ich noch nie gesehen hatte ...
Mich ihm langsam nähernd, nahm ich die Gestalt genauer in Augenschein, denn ihr
Aussehen war so außergewöhnlich — zumindest aus der Sicht eines Provinzlers, zu
deren Spezies ich mich als Bewohner einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt,
zählen muss —, dass sie jedem Parkbesucher sofort in Auge fallen musste. Ihre
Kleidung allein erwies sich schon als so ungewöhnlich, dass sie meine Neugier
weckte. Der Mann trug einen offenen Mantel, Umhang wäre richtiger ausgedrückt,
aus Schaffell, darunter eine Art wollene Strickjacke, ein blaues Hemd mit großen
goldenen Sternen, eine braune, reichlich verbeulte Cordhose, Wanderstiefel und
auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut, einen Borsalino aus einem
Secondhand-Laden, wie er später beiläufig erwähnte, mit einer kleinen Feder im
Hutband, die mich — warum auch immer — an etwas erinnerte, was mir allerdings
spontan nicht einfallen wollte. Zu seiner Ausstattung gehörten ferner ein
knorriger Wanderstock aus uralter Eiche und ein Koffer aus einem mir unbekannten
Material, der funkelte wie die Sterne am Nachthimmel.
Nachdem ich sein Äußeres verinnerlicht hatte, suchte ich, in seiner Miene zu
lesen. Seine nachtschwarzen Augen, in deren Pupillen ich — obwohl erst früher
Nachmittag — den Mond zu scheinen vermeinte, blickten mir freundlich, aber
Distanz wahrend entgegen. Tiefe Furchen in seinem sonnengebräunten Gesicht
vermittelten den Eindruck von Erfahrung und gelebtem Leben, doch tat ich mich
schwer, sein Alter abzuschätzen. Er zählte zu jenen Geschöpfen, die als
alterslos eingestuft werden, ein Attribut, das Frauen gerne für sich
beanspruchen, Männern jedoch mit gleichem Recht zugestanden werden sollte.
„Habe ich Ihren Platz eingenommen, werter Herr?“, fragte er mich zur Begrüßung
mit einer wohl tönenden Baritonstimme, die eines Opernsängers würdig wäre,
erweckte den Anschein, als ob er der Hausherr auf der Bank wäre, und fuhr
liebenswürdig fort, „ darf ich mir erlauben, Sie einladen, sich zu mir zu
setzen? Ich rücke gerne ein wenig zur Seite, denn Platz genug für zwei bietet
die Bank allemal.“
Die Wertschätzung in seiner Anrede setzte mich in Erstaunen, war eine solche
Höflichkeit in unserer hektischen Zeit doch alles andere als alltäglich, und
verscheuchte meinen Ärger.
Er rutschte ein wenig nach rechts, und ich ließ mich neben ihm nieder.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, mein Herr, was ist das für ein merkwürdiger
Kerl, der einfach so meine Bank mit Beschlag belegt?“, eröffnete er das
Gespräch, wobei sich seine Lippen zu einem kaum erkennbaren Schmunzeln verzogen.
„Nun, ja ...“, antwortete ich mit Bedacht, doch er schnitt meinen Satz ab mit
der Bemerkung: „Ich kenne das schon. Sie wollen doch nicht leugnen, dass ich
Ihre Neugier geweckt habe?“
Danach entspann sich eine Unterhaltung, welche die Zeit wie im Fluge vergehen
ließ.
„Da ich die meisten Menschen hier im Park kenne, sind Sie mir natürlich
aufgefallen, zumal Ihr Outfit jedermann sofort auffällt. Woher wissen Sie
überhaupt, dass ich hier immer sitze? Sind Sie auf der Durchreise oder besuchen
Sie jemanden?“
Den ersten Teil der Frage umging er geschickt, erwiderte jedoch auf den zweiten:
„Ich bin immerzu und überall auf der Durchreise, mein Herr.“
„Daher tragen Sie wohl diesen merkwürdigen Koffer mit sich, der so schön
funkelt?“
„So könnte man folgern ... in dem Koffer befindet sich etwas, das von Ort zu Ort
zuzustellen meine Aufgabe ist ... mein Handwerkszeug sozusagen.“
„Dann sind Sie ein fahrender Händler?“
Eine Pause entstand, ich wartete darauf, dass er weiter sprach, mir erläuterte,
was er Geheimnisvolles in dem Koffer beförderte, und ich konnte meine Wissbegier
kaum verbergen, ein Attribut, das vielen Autoren zu Eigen ist, die sich ständig
auf der Suche nach Stoff für neue Geschichten befinden.
„Ich bin mit einem äußerst wichtigen Auftrag betraut. Ich muss den Menschen
etwas bringen, auf das niemand von ihnen verzichten mag.“
Diese Eröffnung steigerte meine Erwartungen noch mehr, und ich forderte ihn auf,
mit seiner Erzählung fortzufahren.
„Sie können sich sicherlich nicht vorstellen, wovon ich spreche, mein Herr?“
Ich konnte es in der Tat nicht und gab dies auch freimütig zu.
„Kaum jemand kann sich ausmalen, welch schwierige Aufgabe mir aufgebürdet wurde,
und viele Menschen wissen mein Werk nicht zu schätzen, weil sie damit nicht
umgehen können.“
„Die Menschen sind von Natur aus dumm. Der Schöpfer hat sie mit Absicht so
erschaffen, damit es ihnen nicht gelingt, sich auf eine Stufe mit ihm zu
stellen, was ja zu allen Zeiten immer wieder ihr Bestreben war.“
„Sprechen Sie bitte nicht abwertend von den Göttern, mein Herr, und machen Sie
keine Witze über sie, denn sie mögen das ganz und gar nicht!“, mahnte er, kaum
als ich ausgesprochen hatte.
„Das war keineswegs meine Absicht ...“, wiegelte ich ab, „aber ... warum legen
Sie so großen Wert darauf?“
„Sie sind meine Arbeitgeber.“
„Ihre Arbeitgeber?“ Diese Eröffnung hinterließ Spüren der Überraschung in meinem
Gesicht.
„Sind Sie ein Priester?“
„Nein, kein Geistlicher. Es gibt in dem Unternehmen der Götter auch noch andere
Aufgaben zu bewältigen, Aufgaben durchaus weltlicher Natur.“
Aus meinen Augen purzelten Hunderte von Fragezeichen, die er jedoch zu
ignorieren schien. Der Fremde wühlte in seiner Manteltasche, zog eine Flasche
mit einer goldenen Flüssigkeit hervor, schraubte sie auf und trank davon. Dann
reichte er sie mir herüber.
„Probieren Sie mal, dieses Elixier wird Ihnen gut tun, es verschafft göttliche
Energie.“
Ich nahm die Flasche, roch an dem Verschluss, nippte am Inhalt, denn göttlicher
Energie wollte ich mich keineswegs verweigern, wenn aufzutanken sich schon die
Gelegenheit bot, und der Geschmack eines köstlichen Getränks entzückte meine
Sinne. Bevor ich danach fragen konnte, bedeute er mir: „Das ist Nektar! ... Wie
Sie vielleicht wissen, das Getränk, das eigentlich den Göttern vorbehalten ist.“
Nachdem meine Überraschung abgeklungen war, kam ich nochmals auf seinen Beruf zu
sprechen: „Sie wollten mich aufklären, welche Aufgaben Sie über Land führen.“
„Was lässt Sie vermuten, dass ich mit Ihnen darüber sprechen wollte, mein Herr?“
„Nun ja ... es hörte sich eben so an ...“
„Ich erwäge gerade, Ihnen Einblicke in meine Tätigkeiten zu gewähren, da Sie als
Schriftsteller mein Tun eher zu würdigen wissen als ein Normalsterblicher ...
nehme ich zumindest an.“
„Woher ist Ihnen bekannt, dass ich meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller
friste? ... als schlecht bezahlter im Übrigen, wenn ich das noch ungefragt
hinzufügen darf, denn wie Ihnen selbst im Olymp kaum entgangen sein wird, ist
den Menschen die Liebe zum Lesen abhanden gekommen.“
„Ich habe Zugang zu derlei Informationen ... Dieses Wissen gehört zu meinem
Handwerkszeug. Und wenn Sie wüssten, über welche Fähigkeiten ich zudem verfüge
...“
„... Können Sie etwa auch Gedanken lesen?“
„Wir sollten es bei dem Hinweis belassen, dass ich mich auf ungewöhnliche
Fähigkeiten stützen kann. Mehr möchte und kann ich dazu nicht sagen.“
Mein Gesprächspartner wurde mir zunehmend unheimlicher, doch wenn meine Neugier
einmal wach gerufen ist, kann ich mich nicht dagegen wehren, den Dingen auf den
Grund zu gehen, und ich raffte mich zu der Frage auf: „Von Datenschutz halten
Sie wohl eher weniger?“
„Datenschutz gehört da, wo ich herkomme, zu jenen Fremdwörtern, deren Bedeutung
für mich ohne eine ebensolche ist.“
„Dieser Satz hätte von mir sein können ... rein technisch meine ich. Sie spielen
anscheinend ebenso gerne mit Worten wie ich?“
„Ich habe ein paar Geschichten von Ihnen gelesen und allerlei Wortspiele darin
gefunden“, versetzt er mich in Erstaunen.
Wir hatten uns schon wieder vom eigentlichen Thema entfernt, das mein Interesse
geweckt hatte, ich machte ihn darauf aufmerksam und fragte: „Haben Sie auch
einen Namen? ... Ich muss mich ja nicht vorstellen, wenn Sie sowieso alles über
mich wissen.“
„Man heißt mich den ?Mann mit dem sternfunkelnden Koffer'.“
„... weil Sie mit diesem Koffer unterwegs sind?“
„Sie haben es richtig erfasst, bravo, mein Herr.“
„Und was bitte ist nun Ihr Beruf?“
„Nun ... Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten.“
Von einem solchen Beruf hatte ich noch nie gehört, sodass mich seine Aussage
keineswegs klüger machte.
Der Mann schien plötzlich tief in seine Gedanken zu versinken.
„Worüber denken Sie nach?“, fragte ich ihn mit aufkeimender Ungeduld.
Als hätte ich ihn geweckt, schreckte er hoch.
„Ich erhielt gerade eine Nachricht.“
„Eine Nachricht? Wie? Auf welchem Wege?“
„Das können Sie sich nicht denken?“, fragte er amüsiert und schüttelte
missbilligend seinen Kopf.
Ich hatte zwar eine gewisse Vermutung, weil ein anderer Weg mir im Moment nicht
vorstellbar war, doch bevor ich ihm antworten konnte, hörte ich ihn sagen:
„Durch Telepathie natürlich!“
Während er mir das sagte, kramte er in seiner Manteltasche und nestelte ein
abgewetztes, in Leder gebundenes Notizbuch mit reichlich zerfledderten Seiten
hervor, deren Material mich eher an Papyrusrollen in Museen als an herkömmliches
Papier erinnerte. Mit einem Griffel machte er sich ein paar Notizen in einer Art
Keilschrift, ähnlich der, die die Sumerer im Altertum benutzt haben.
„Und wer hat Sie und weswegen benachrichtigt?“, wollte ich wissen.
„Das geht nun aber entschieden zu weit und Sie außerdem nichts an, mein Herr!“
Ich erschrak ob seines plötzlichen Einspruchs, doch rückte er näher und
flüsterte mir ins Ohr — wahrscheinlich, damit die Götter ihn nicht hören
konnten: „Ich verrate Ihnen schon mehr als Sie erfahren dürfen.“
Ich ließ jedoch nicht locker. Jetzt wollte ich alles über ihn wissen, zumindest
alles, was er preiszugeben bereit war.
„Sie sagten eben, sie wandern zwischen den Welten. Zwischen welchen, wenn ich
fragen darf?“, versuchte ich, mit der mir angeborenen Hartnäckigkeit ans Ziel zu
gelangen, „zwischen den Gestirnen oder gar Galaxien?“
„Unsinn!“, wies er mich zurecht. „Zwischen Träumen und der Wirklichkeit!“
Die Überraschung war ihm gelungen! Ich hatte mit allem gerechnet, hatte mir
bereits Bilder vor Augen geführt, wie er —ähnlich einem Weihnachtsmann — durchs
Universum düst, von Stern zu Stern, und seinen Verpflichtungen — welcher Art
auch immer sie waren — nachging.
Doch nun bewegten wir uns auf dem Gebiet der Metaphysik, völlig unerwartet.
Jetzt konnte ich mich nicht mehr bezähmen. Mein Wissensdurst verlangte danach,
gestillt zu werden.
„Zwischen Träumen und Realität?“, knüpfte ich an, damit er mit seinen
Schilderungen fortfuhr.
„Ich bin der Bote, der sich in den Schlaf der Menschen schleicht und ihnen die
Träume bringt.“
Ich schnappte nach Luft, versuchte mich zu sammeln, konnte mir — trotz meiner
ausgeprägten Fantasie — nicht gut vorstellen, dass die Götter uns auf diesem
Wege mit Träumen beschenken.
„Eine schwierige Aufgabe“, stellte ich erst einmal nichts sagend fest, um ein
wenig Zeit zu gewinnen, „es gibt so viele unterschiedliche Träume. Nach welchem
System werden die Träume verteilt? Die beglückenden und Freude spendenden oder
auch die Albträume?“
„Darauf habe ich — sehr zu meinem Bedauern — keinerlei Einfluss. Ich bin
Befehlsempfänger, erhalte meine Weisungen von höchster Stelle.“
„Diese Entschuldigung ist immer wieder zu hören“, entgegnete ich als geborener
Antimilitarist, „ ... doch wie soll ich Sie verstehen? Verschanzen Sie sich
hinter Ihrer Obrigkeit oder darf ich aus Ihrer Bemerkung schließen, dass Sie
nicht immer restlos mit dem einverstanden sind, was Ihnen aufgetragen wird?“
„Auf diese Unterstellung — und das wird Ihnen sicherlich einleuchten —
verweigere ich die Antwort.“
„Entschuldigen Sie bitte“, warf ich eilends dazwischen, „es war nicht so
gemeint.“
Mir wurde bewusst, dass ich mit allen Mitteln vermeiden musste, sein
Mitteilungsbedürfnis zu unterbinden, und wechselte daher das Thema.
„Darf ich Sie zwischendurch mal fragen, wie alt Sie sind?“
„Sie hatten doch schon festgestellt, dass ich ohne Alter bin“, schmunzelte er,
„doch mal im Ernst: Was spielt es denn für eine Rolle, ob ich 60, 600, 6000 oder
gar 6 Millionen Jahre alt bin? Ich weiß es selbst nicht, Gedanken über mein
Alter sind mir wesensfremd. Im Übrigen ist unsere Zeitrechnung mit dem auf dem
Planeten Erde angewandten gregorianischen Kalender keineswegs identisch ... Was
ich sagen wollte, ich habe bereits Adam und Eva im Paradies besucht und ihnen im
Traum vorgegaukelt, dass ihnen die Äpfel vom Baum der Erkenntnis das Wissen über
die Geheimnisse des Lebens vermitteln würden ... Das Ergebnis ist wohl
hinreichend bekannt.“
„Dann müssen Sie ja so alt wie die Menschheit oder sogar noch älter sein!“,
staunte ich.“
„Ein gewisses Alter kann ich nicht verleugnen“, bestätigte er mit einem
verschmitzten Lächeln, so weit die tiefen Falten in seinem Gesicht dies
zuließen.
„Dann haben Sie sicherlich eine Menge berühmter Leute im Laufe der Zeit kennen
gelernt und — wie soll ich sagen? — betreut?“
„Auch das dürfte wohl richtig sein, wobei als Berühmtheit zu gelten, ein
ziemlich relativer und oft auch fragwürdiger Begriff ist.“
„Können sie mir denn wenigstens einige ihrer ... Klienten? ... beim Namen
nennen?“
„Das ist mir strengstens untersagt, und ich muss doch wohl kaum erläutern, warum
mir solcherlei Auflagen gemacht werden? Und außerdem ... Ich bin nicht der
einzige Traumbote. Es gibt da noch Männer mit anders funkelnden Koffern und
Himmelskörpern aus anderen Galaxien darauf, und Sie werden es nicht glauben,
inzwischen sogar Kofferfrauen, denn die Gleichberechtigung hat inzwischen selbst
bei der Olymp GmbH Einzug gehalten ...“
„Donnerwetter!“, warf ich verblüfft ein, „dass Frauen gleichberechtigt sind, hat
sich ja noch nicht einmal bis in alle Länder unseres Planeten und erst recht
nicht bis in die höheren Kreise der Gottesdiener hierselbst herumgesprochen ...
und habe ich richtig gehört? ... das Unternehmen der Götter ist eine
Gesellschaft mit beschränkter Haftung?“
„Was denken sie denn, mein Herr? Sollen die Götter etwa für jeden Unfug haften
müssen, den ihre Geschöpfe im Universum verzapfen?“
Über diese Frage hatte ich — zugegebenermaßen — noch nie ernsthaft nachgedacht,
wollte dieses offensichtliche Versäumnis jedoch keineswegs zugestehen, nahm mir
vor, dies baldigst nachzuholen, und wechselte schnell wieder das Thema: „Olymp,
da geben Sie mir ein Stichwort. Die Menschen — ich natürlich auch — wollten
immer schon gerne wissen, wo der Olymp oder der Himmel, wie manche sagen,
angesiedelt ist. Können Sie mir da einen Tipp geben? ...“
„... um schneller dorthin zu gelangen?“, grinste er mich reichlich unverschämt
an.
„Nun ... So wollte ich meine Frage eher nicht verstanden wissen“, wiegelte ich
ab, um ihm nicht auf die Füße zu treten.
„Eines kann ich Ihnen verraten, und das ist für Eingeweihte noch nie ein
Geheimnis gewesen, der Olymp ... oder meinetwegen auch das Paradies oder der
Himmel, wie Sie ihn nennen ... ist überall! Das haben Sie doch selbst oft genug
in Ihren Geschichten geschrieben. Wer mit offenen Augen und Ohren durchs Leben
zieht, sollte das Paradies überall vergegenwärtigen, der Garten, in dem zu leben
ihm die Götter Gelegenheit geben, aber die Menschen neigen eher dazu, das ihnen
anvertraute Paradies zu zerstören anstatt es zu pflegen und zu genießen ...“
„ ... So wie beispielsweise dieser Nero, der wahnsinnigen Kaiser im alten Rom,
um ein Beispiel heranzuziehen? Haben Sie oder Ihre Kollegen ihm im Traum
eingeflüstert, Rom abzufackeln?“
„Gott bewahre! Mit Sicherheit nicht! Auch das Gewerbe der Olympier läuft nicht
immer störungsfrei ab. Satanas, der Menschheit ebenfalls nur zu gut bekannt,
dieser Generalbevollmächtigte der Unterwelt AG, deren Aktien antizyklisch im
ständigen Steigen begriffen sind und auch von vielen Erdbewohnern gehalten
werden, liebt nichts mehr als den Göttern ins Handwerk zu pfuschen. Auch selbige
sind nicht völlig gegen seine Machenschaften gefeit.“
Ich hatte zwar bereits früher über dieses Thema einige Überlegungen angestellt,
die zu der — allerdings ungesicherten — Erkenntnis führten, dass es auch Götter
nicht immer leicht haben, doch hatte ich bisher noch niemanden getroffen, der
mir aus berufenem Munde das Ergebnis meines Kopfzerbrechens bestätigen konnte.
Jetzt hatte ich die einmalige Gelegenheit, Detailfragen wie das Überbringen von
Träumen zu klären, und ich bat daher den Fremden: „Würden Sie mir einen kurzen
Blick in Ihren Koffer gestatten? Nur zu gerne würde ich mal Träume sehen.“
Diese Frage schien der Fremde erwartet, richtiger befürchtet, zu haben,
schließlich hatte er nichts unterlassen, meine Fantasien zu beflügeln. Er wand
und zierte sich, rutschte unruhig auf seinem Hinterteil hin und her und warf
fragende Blicke himmelan, so, als erwarte er von dort eine Antwort, was meine
Vermutung bestärkte, dass die Volksmeinung, der Himmel sei oben, sich doch als
die richtige erweisen könnte. Nachdem er sich offensichtlich in ausreichendem
Maße gewunden und geziert hatte, rückte er mit viel sagendem Augenaufschlag
näher, nahm den Koffer auf seinen Schoß, öffnete das Schloss mit einem riesigen,
ziemlich altertümlichen Schlüssel, den er aus den Tiefen seines Mantels
hervorgezaubert hatte, legte seinen
Mantel dergestalt darüber, dass ich zwar von der Seite Einblick
erhielt, nicht aber die Götter von oben. Das Innere des Koffers bestand aus
zahlreichen Fächern, die mit noch zahlreicheren Schubladen oder Kästchen gefüllt
waren. Die Kästchen schimmerten und flackerten in allen Farben des Spektrums,
waren jedoch weder beschriftet noch anderweitig gekennzeichnet. Das verwunderte
mich als ordnungsliebenden Zeitgenossen, sodass meine nächste Frage, obwohl ich
mir die Antwort fast denken konnte, nicht ausbleiben konnte: „Woran bitte
erkennen Sie, welche Träume sich in welchem Kästchen befinden?“
„Das ist doch einfach auseinander zu halten! Die Farben zeigen mir den Inhalt
der Schächtelchen an.“
„Was ist denn in dem schwarzen da, in diesem noch schwärzer als schwarzen?“, ich
deutete dabei auf Kästchen und näherte mich ihm mit dem Zeigefinger.
„Nicht anfassen!“, wies er mich unwirsch zurecht, nahm aber selbst das Kästchen
in seine Hand und öffnete es sogar. Ich schaute gebannt hinein und sah ...
nichts!
„Ich kann in dem Kästchen nichts erkennen ... Was soll denn da drin sein? Wie
sieht ein Traum denn ungeträumt aus?“
„Sie enttäuschen mich nun aber auf der ganzen Linie! Wo bleibt Ihre Fantasie?
Was glaubten Sie denn, in diesem Kästchen wahrnehmen zu können?“
„Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass Träume ursprünglich aus nichts
bestehen? Und ... kommt mir gerade in den Sinn, unterscheiden Sie zwischen Tag-
und Nachtträumen?“
„Dieserlei Überlegungen sind mir zu irdisch, zu pragmatisch, mein Herr. Die
Träume in meinem Koffer sind nicht sichtbar, dann würden sie nicht hineinpassen.
Sie sind verpackt in winzigste Moleküle, die ihre wahren Eigenschaften erst dann
zur Entfaltung bringen, wenn sie im Unterbewusstsein des Empfängers angekommen
sind. Sie sind entsprechend programmiert ... wie Sie das auf Ihrem Planeten
nennen.“
„Und wie geschieht der Versand, wenn ich fragen darf?“
„Ganz einfach, sehen Sie!“, und er ergriff, während er dies sagte, aus dem
Koffer ein grünliches Kästchen, öffnete es, tastete vorsichtig hinein, entnahm
ihm eines dieser unsichtbaren Moleküle, legte es behutsam auf die freie
Handfläche und pustete es in die Luft. Ich vermeinte ein Geräusch zu hören, wie
wenn eine Rakete abgeschossen wird, allerdings in einer so hohen Frequenz, dass
es für menschliche Ohren so gut wie nicht wahrnehmbar ist.
„An wen haben Sie den Traum geschickt?“, nahm ich das Gespräch wieder auf.
„Ich kann Ihnen doch nicht verraten, was andere Menschen träumen ... nein, das
kann ich ...“
„... Aber Sie können mir sicherlich etwas über den versandten Traum erzählen. Zu
welchem Genre gehörte er?“
„Grün ist die Farbe der Hoffnung, wie Sie wissen. Dieser Traum wird dem
Empfänger die Erfüllung einer Situation vorgaukeln, nach der er schon lange
lechzt. In seinen Träumen findet die Erfüllung statt, doch ob dies auch in der
Realität erfolgen wird, ist eine andere Frage. Durch diese Träume wird der
Empfänger den Glauben an seine Sehnsüchte nicht verlieren. Wenn ich Empfänger
sage, so kann es sich dabei natürlich auch um eine Empfängerin handeln.“
Eine kleine Pause entstand, ich brauchte ein paar Augenblicke, um die Eindrücke
zu verarbeiten, währenddessen der Fremde in dem Koffer aufzuräumen schien. Er
zog ein uraltes Chronometer aus der Tasche und erschrak offensichtlich.
„Um der Götter willen! Jetzt sitzen wir hier schon drei Stunden! Ich werde eine
Abmahnung bekommen, wenn ich mich nicht schnellstens auf den Weg mache ...“
„... Eine Frage bitte noch“, unterbrach ich ihn, „können Sie mir noch schnell
zumindest die Traumfarben im Groben erläutern, damit ich eine kleine Vorstellung
von Art und Wirkungsweise bekomme?“
„Sie wollen aber wirklich alles genau wissen. Ich verfüge jedoch nicht mehr über
genug Zeit heute, und diese Kenntnisse verlangen ein Studium von mehreren Jahren
Ihrer Zeitrechnung, sind also nicht in wenigen Worten zu erklären ...“
„... In Kurzform bitte!“
„Nun, ich nehme an, dass das Träumen an sich Ihnen nicht fremd ist. Daher
dürften Ihnen schon Träume verschiedenerlei Gattungen begegnet sein: Träume der
Liebe, der Lust und des Glücks ... hier in den roten Kästchen, die nicht ohne
Grund in der Mehrzahl sind, die grünen mit den Hoffnungsträumen, die goldnen,
die Träume materieller Natur verbreiten, und hier die changierenden Kästchen,
grün-gelb für die Frühlings-, blau-gelb für die Sommer-, braun für die Herbst-
und blau-weiß für die Winterträume, die blauen, für Träume, die im und auf dem
Wasser spielen, die blau-grauen im Wasser bei stürmischer See, und dies alles in
allen nur vorstellbaren Nuancen und als kleine Beispiele der vorhandenen
Möglichkeiten ... ja, und nicht zuletzt die schwarzen, die Albträume oder gar
die Träume vom Tod ... die unters Volk zu bringen ich so hasse! ...“
Sein Wortschwall, an dem er sich selbst wie ein Professor begeisterte, brach
abrupt ab. Er klappte seinen Koffer zu, stand auf, räkelte sich, und nahm noch
einmal einen kräftigen Schluck seines Energietranks, sich mit den Augen
erkundigend „Sie auch noch?“, was ich dankend verneinte.
„Ich muss los ... War außerordentlich nett, Sie getroffen zu haben,
werter Herr ... Und was ich noch sagen wollte, ich betrachte Sie ein wenig als
Kollegen oder Mitarbeiter ... Sie schreiben schließlich über die Träume, die ich
verbreite, denn als Schriftsteller ist es nicht nur Ihre Berufung, nein geradezu
Ihre Verpflichtung, darüber zu berichten ... und daher wünsche ich Ihnen allzeit
schöne Träume ...
Es war mir eine Ehre, und ein Vergnügen zudem, Verehrtester.“
„Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und Ihre guten Wünsche“, beeilte ich
mich, ihm auf den Weg zu geben, und das Vergnügen war ganz auf meiner Seite ...“
Bei den letzten Worten war er schon im Gehen begriffen. Er stapfte, sich müde
auf seinen Stock aufstützend, über die Wiese davon auf eine Gruppe von einigen
mehrere hundert Jahre alten Bäumen zu. Ziemlich bewegt von dieser Begegnung,
blickte ich hinter ihm drein. Ich konnte noch nicht fassen, was ich heute hier
im Park erlebt hatte. Urplötzlich wehte ein sanfter Wind über die Wiese, der
eine Wolke aus Staub und Sand aufwirbelte und der sich jedoch im Nu wieder
verflüchtigte ... und mit ihm entschwand — wie in einem Trickfilm — der Mann mit
dem sternfunkelnden Koffer aus meinem Blickfeld.
*
Während ich noch über die
ungewöhnliche Begegnung nachsann, kam mein Hausnachbar Fred Wagner mit seiner
kleinen Tochter an der Hand, die er zum Spielen auf den Spielplatz begleitet
hatte, auf meine Bank zu.
„Du genießt auch die Sonne im Park?“, stellte er eher fest als dass er mich
ernsthaft danach fragte.
„Ich habe eben eine höchst seltsame Erfahrung gemacht. Hast du den Mann gesehen,
der eben über die Wiese ging und einige Zeit hier bei mir gesessen hatte?“
Fred schaute mich sichtlich besorgt an und schüttelte unmerklich den Kopf, und
ich las in seinen Augen „Er hat wohl zu viel Sonne abbekommen“.
„Ist dir nicht gut?“, fragte er mich mit ernster Miene, „ich habe ein paar Mal
zu dir hinüber geschaut, aber du hast die gesamte Zeit alleine auf der Bank
gesessen.“
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