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Natascha ( Nachruf auf ein große Liebe )
Ich gebe es unumwunden und sogar
freimütig zu, und ein jeder darf es wissen: ich liebte sie, liebe sie auch heute
noch und werde sie immer lieben …Wen? Natascha, die wie kein Geschöpf zuvor mein
Herz im Sturm eroberte. Um diese Liebe rankt sich eine Geschichte, der
wahrscheinlich nur Leser folgen können, die mit jenem Schuss Fantasie
ausgestattet sind, der in die Lage versetzt, die Grenzen zur Welt des Realen
gelegentlich ein wenig zu verwischen. Der Anteil an Wahrhaftigkeit an dieser
Geschichte ist jedoch erheblich größer als so mancher Leser nach der Lektüre
glauben mag.
Bei meinem Nachbarn Herbert V. lernte ich Natascha kennen. Wir saßen in Herberts
Wohnzimmer bei einer Flasche Bier und diskutierten über steigende Baukosten —
seinem unendlichen Lieblingsthema — und über die politische Lage im Einzelnen,
mehr noch im Allgemeinen, als es stürmisch an seiner Wohnungstür klingelte.
Herbert öffnete, und in der Türe erschien Natascha in ihrer ganzen Schönheit,
wenn auch ihr Aussehen schon ein wenig die Patina der Zeitlosigkeit angesetzt
hatte. Unüberhörbar schnaufend, oder wie ihre Kurzatmigkeit beschrieben werden
kann — denn sie litt unüberhörbar unter asthmatischen Beschwerden — trabte sie
in die Diele, wo sie erst einmal alle unbefestigten Gegenstände einschließlich
der Garderobe umwarf. Langsam, mit sichtbar linkischen Bewegungen näherte sie
sich dem Wohnzimmer, blieb aber an der Schwelle zum Zimmer — sich heftig
schüttelnd und prustend — stehen. Sie blickte fragend in die Runde, die sich im
Wohnzimmer versammelt hatte, ließ sich schließlich polternd auf dem Boden
nieder, alle Viere von sich streckend und darauf wartend, dass die Anwesenden
herbeieilten, um sie zu betätscheln. Nachdem sie die gewünschten
Streicheleinheiten — offensichtlich zu ihrer vollsten Zufriedenheit —
vereinnahmt hatte, erhob sie sich wieder, schüttelte wohlig ihr Haupt und
trottete durch die offen gebliebene Dielentüre davon.
Ich fragte Herbert, wie er zu diesem Familienzuwachs gekommen sei, er jedoch
zeigte sich ungewöhnlich verschlossen und ließ mit ernster Miene durchblicken,
dass sich dahinter eine höchst traurige Geschichte verberge, die wiederzugeben
ihm nicht ohne weiteres gestattet sei und die Natascha mir schon selbst erzählen
müsse, falls sie mich für wert hielte, an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen.
Vorerst einmal ließ ich die erste Begegnung mit ihr auf sich beruhen und wartete
auf eine günstige Gelegenheit, mit Natascha ins Gespräch zu kommen, wohl
wissend, dass sich dieses Unterfangen schon aus Gründen der sprachlichen
Verständigung schwierig gestalten könnte. Als ich Natascha eines Tages alleine
auf der Wiese gegenüber meinem Balkon liegen sah, schien der geeignete Moment
gekommen zu sein. Der Leser sollte zum besseren Verständnis wissen, dass ich zu
jener Zeit am Rande einer Kleinstadt wohnte, wo bis dato — dem Himmel sei
gedankt — nur drei Wohnhäuser gebaut worden waren und ein Tennisklub sich
angesiedelt hatte. Ansonsten findet das Auge eines Betrachters nur viel Feld,
Wald und Wiese vor.
Ich ging also hinunter, kletterte über den Zaun und näherte mich Natascha
behutsam mit der Frage, ob ich mich ein wenig zu ihr gesellen dürfe. Sich
augenscheinlich etwas zierend, gab sie mir durch ein Nicken des Kopfes ihr
Einverständnis zu verstehen, und ich begann die Unterhaltung mit dem üblichen
Small-Talk-Geplänkel. Nach einiger Zeit des gegenseitigen Beschnupperns wurde
Natascha schon zutraulicher, legte schließlich sogar — zu meinem höchsten
Erstaunen — ihren Kopf in meinen Schoß und blinzelte mich aus ihren großen
traurigen Augen an. Nach einer durchaus schicklichen Zeit des Abwartens, die ich
allerdings nutzte, um sanft über ihren Kopf und Hals zu streicheln, wurde ich
meiner Neugierde nicht mehr Herr und fragte sie unumwunden, welches Schicksal
sie nach hier verschlagen hätte, schränkte meine Frage aber gleich wieder ein,
indem ich ihr zugestand, jede Antwort verweigern zu dürfen, wenn ihr nicht nach
Erzählen zu Mute sei.
Der aufmerksame Leser wird sich inzwischen längst die Frage gestellt haben, wer
oder was Natascha eigentlich ist. Vielleicht sollte ich daher an dieser Stelle
das Geheimnis zum besseren Verständnis erst einmal lüften: Also … Natascha ist
ein Pferd, und wer genauer hinschaut, wird sogar einen Schimmel erkennen, einen,
der allerdings in Ehren ergraut ist. Doch lassen wir sie selbst berichten, wobei
ich wundersamerweise ohne Probleme ihre Sprache verstehen konnte:
„Herbert hat mir das Leben gerettet, und ich bin hier, weil er mir Unterkunft
und quasi eine Art von Gnadenbrot gewährt, das Brot allerdings mehr in Form von
Möhren und Zuckerstückchen. Ich bin ihm sehr dankbar dafür.“
Vielleicht sollte ich kurz einflechten, dass Herbert in den vergangenen Jahren
einen kleinen Zoo aufgebaut hatte und verschiedenerlei Tiere beherbergte, teils,
um sie oder ihre Produkte irgendwann zu verspeisen, teils aber auch, weil er ein
großes Herz für Tiere hat. Zu seinem Zoo gehörten seinerzeit unter anderem
etliche Gänse, fünf Schafe, drei Hunde, von denen einer, eine Missgeburt — aus
einem Spanienurlaub mitgebracht — mit überkreuzt stehenden Vorderbeinen, die dem
Tier die einzigartige Fähigkeit verleihen, vorne galoppieren und hinten traben
zu können, Katzen, deren Anzahl niemand so recht kannte, weil sie sich
beharrlich weigerten, an einer anberaumten Katzenzählung teilzunehmen, Hühner
natürlich (weil … „Eier braucht der Mann!“) und neben Natascha zwei weitere
Pferde, die von seinen beiden Töchtern beritten wurden, wobei sich in deren
Gesichtern beim Reiten stets eine Art von Verzückung einstellte, über die ich
mir schon länger so meine eigenen Gedanken machte.
Doch zurück zu Natascha.
„Ich bin in einem kleinen Zirkus geboren worden, wo alle Mitglieder versuchten,
mir eine Menge größerer und kleinerer Kunststücke beizubringen“, fuhr sie mit
ihrer Lebensgeschichte fort. „Lange Zeit habe ich in der Manege gearbeitet, und
meine Hauptaufgabe bestand darin, so eine Art Pferdeclown zu mimen, wozu ich
mich unzweifelhaft berufen fühlte. In meiner beliebtesten Nummer zum Beispiel
stibitzte ich Frauen, wobei ich stets Blondinen bevorzugte, mit dem Mund die
Handtaschen vom Schoß, sehr zur Freude ihrer mitgebrachten Kinder. Anschließend
mussten die Mütter mich mit komischen, die übrigen Zuschauer erheiternden Posen
und dem Versprechen auf jede Menge Zuckerstücke überzeugen, die Taschen wieder
herauszurücken. Vorher jedoch untersuchte ich selbige auf deren Inhalt und
präsentierte dem hoch verehrten Publikum, was ich da so vorfand wie die
typischen Inhalte von Frauenhandtaschen, als da sind Lippenstifte, Tempos,
Tampons, usw., aber auch Kondome, die aufzublasen ich zeit meiner Karriere
vergeblich versucht habe, oder auch Höschen sowie allerlei höchst unwichtige
Utensilien, wie sie jede Frau in ihrer Handtasche mit sich herumträgt.
Jedenfalls konnte mit dieser Nummer unser oftmals schlappes Programm ganz schön
in die Länge gezogen werden, und niemand merkte, dass wir eigentlich gar kein
richtiges Programm anzubieten hatten. Ich beherrschte auch einige
Dressurnummern, doch am liebsten gestaltete ich schlicht und einfach einen
Pferdeclown, zu erkennen daran, dass mir einer der Artisten eine große rote
Pappnase auf meine Nüstern setzte.
Doch unser Zirkus war klein und arm. Oft klimperte nicht genug Geld in der
Kasse, um uns Tieren Futter zu kaufen, und im Winter fehlte oft eine warme
Unterkunft. Ich bekam neben anderen Krankheiten Asthma und diesen schlimmen
Husten, der sich wie ein Lachen anhört. Bald durfte und konnte ich aus Gründen
der Hygiene, wie ein Tierarzt anordnete, nicht mehr in der Manege auftreten und
musste für 50 Cent pro Runde Kinder um das Zelt herum tragen. Das bereitete mir
zwar Freude, doch litt ich sehr unter meiner Krankheit, und immer weniger Kinder
durften auf mir reiten, da wohl viele Eltern glaubten, mein Husten sei
ansteckend. Schließlich meinte der Zirkusdirektor, dessen Titel für einen Zirkus
unserer Größenordnung reichlich hochtrabend klang, ich wäre zu nichts mehr nütze
und fräße ihm nur noch die Haare vom Kopf, die bei ihm schon seit Jahren
weitestgehend aus einem künstlichen Haarteil bestanden, und er beschloss, mich
zum Schlachthof zu bringen, um mich dort verwerten oder entsorgen zu lassen, wie
die Menschen das nennen. Ob ich allerdings noch zu Sauerbraten oder Rouladen
taugte, bezweifelte ich mit aller Entschiedenheit, und ich hatte mir schon
vorgenommen, in jedem Halse lebenslänglich stecken zu bleiben, dem ich als
Nahrungsmittel zugeführt werden würde.
Als der Direktor mit mir beim Schlachthaus ankam, war zufälligerweise Herbert
ebenfalls dort, und ein wohl meinendes Schicksal nahm seinen Lauf, denn
eigentlich wollte er dort ein halbes Schwein, bereits geschlachtet
selbstverständlich, zum Auffüllen seiner Gefriertruhe abholen. Ich guckte ihn
mit meinen traurigsten Augen um Hilfe bittend an — ich kann, wie du inzwischen
bemerkt haben wirst, richtig schön traurig gucken —, und nach einem kurzen
Wortgeplänkel mit dem Zirkusdirektor und nachdem ein Geldschein den Besitzer
gewechselt hatte, wechselte auch ich den Besitzer, ohne die Erfahrung gemacht zu
haben, den Schlachthof mit seinen Folterinstrumenten von innen sehen zu müssen.
Jetzt bin ich hier, und ich hoffe noch so lange, bis dass mich der Pferdehimmel
auf seine ewigen Weidegründe abberuft, worum ich jeden Abend zu meinem
Pferdegott bete.“
Ich war tief beeindruckt von Nataschas Lebensgeschichte und fragte sie, ob ich
darüber schreiben dürfe. Diese Idee fand sie nach einigem Nachdenken äußerst
bemerkenswert, schließlich war sie ein Pferd aus Künstlerkreisen und daher nicht
ohne Eitelkeit. Sie fühlte sich bereits in die Garde jener Artgenossen
aufgenommen, über die namhafte Schriftsteller schon Bücher verfasst und
Filmregisseure Filme gedreht hatten. Bei uns beiden hatte es jedenfalls gefunkt,
sich eine Liebe auf den ersten Blick eingestellt, und wir sind von diesem
Augenblick an dicke Freunde geworden.
Natascha verfügte in der Tat über außergewöhnliche Eigenschaften, die man im
Allgemeinen einem Pferd gar nicht zutraut. Beispielsweise hatte Natascha eine
eingebaute Uhr. Jeden Mittag um 12 Uhr kamen Herbert und Liesel, was seine Frau
ist, an das Gatter des Weidezauns, um ihre drei Pferde zum Lunch und
anschließendem Mittagsschlaf abzuholen, zählte doch das Trio nicht mehr zu den
Jüngsten. Ich habe mehrfach beobachtet, dass Natascha sich jeden Mittag fünf
Minuten vor 12 Uhr auf der Weide erhob, zu den beiden anderen Pferden trabte,
ihnen etwas ins Ohr flüsterte oder sie mit den Nüstern anstupste und pünktlich
mit ihnen am Weidezaun erschien. Der Leser mag es glauben oder auch nicht, ich
stellte jedenfalls meine Uhr nach Nataschas „12 Uhr mittags“. Und wenn ich schon
einmal Herbert oder Liesel „Natascha“ rufen hörte, weil die Pferde noch nicht
wartend am Zaun standen, war das Abholkommando zu früh erschienen, nicht aber
hatten Natascha und Kameraden sich mit Verspätung eingefunden.
Die lustigsten Geschichten ranken sich jedoch um Nataschas Tennisleidenschaft.
Wann immer im Tennisklub ein spannendes Match anstand, begab sie sich an die
Einzäunung, um von dort dem Geschehen als Zuschauer beizuwohnen. Es gibt, wie
der Leser, falls er Tennis spielt, sicherlich weiß, mehrere Bücher zu kaufen mit
Titeln wie „Tausend Gründe, ein Tennisspiel zu verlieren“. Diese Bücher hat
bekanntlich ein jeder Tennisspieler auswendig zu lernen, bevor er die ersten
Trainerstunden nimmt und beginnt, sich in diesem Sport zu einem Meisterspieler
zu entwickeln. Tennisspieler gelten allgemein als hypersensibel und lassen sich
lieber durch äußere Umstände von der Siegesstraße abbringen als durch eigene
Schwächen oder die Spielstärke ihrer Gegner. In keinem dieser Bücher ist jedoch
der Grund aufgeführt, warum alle Gegner meines Klubs schlichtweg ohne Siegchance
waren. Der Grund hieß Natascha, wie sonst. Sie stand am Zaun, schaute sich die
Spiele an (sie war übrigens ein leidenschaftlicher Boris-Becker-Fan und konnte
sein eloquentes „äh“ wunderbar imitieren) und … hustete. Da dieses asthmatische
Geröchel sich aber eher wie ein Auslachen anhörte, kann sich der tenniskundige
Leser sicherlich ausmalen, was passierte. Oft wurde sie sogar dabei noch
zusätzlich von einer Schafherde unterstützt, die tausendstimmig einen Refrain zu
Nataschas Husterei blökte. Stellen Sie sich vor, ein Spieler des gegnerischen
Klubs hatte bei eigenem Aufschlag den Vorteil gegen sich, warf den Ball zum
Service hoch und … Natascha hustete beziehungsweise lachte. Die Folge konnte nur
heißen: „Double fault“. Das hält kein Tennisspieler aus! Tennisspieler sind
mental viel zu anfällig, um solchen Einflüssen von außen gewachsen zu sein. Ich
habe schon mehrfach gesehen, dass die einheimischen Spieler, die sich inzwischen
an Natascha und ihren Chor gewöhnt hatten, sie vor einem Match mit Zucker
anlockten, um sich ihrer Hilfe zu versichern. Ich selbst wurde mit Nataschas
tatkräftiger Unterstützung schon fast unschlagbar, denn für mich legte sie sich
grinsend und schnaubend besonders heftig ins Zeug, wie sich jedermann unschwer
vorstellen kann.
Ich hatte immer darauf vertraut, dass Natascha noch ein langes Leben vergönnt
sei und hoffte, dass sie mit den Problemen ihrer angeschlagenen Gesundheit
fertig würde. Sie vermittelte so viel Freude, wie einst, als Freudemachen ihr
Beruf war. Es wussten nur einige wenige Eingeweihte, was sich hier in der
Nachbarschaft im Stall und auf der Weide abspielte, doch das reichte ihr aus, um
ihren Lebenswillen zu stärken, wie sie mir stets glaubhaft versicherte.
Doch alle Märchen enden bekanntlich mit dem Nachsatz: „… und wenn sie nicht
gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Natascha war jedoch keine Märchenfigur
und daher nicht unsterblich. Eines Tages lag sie still auf der Weide. Ihr Herz
hatte zu schlagen aufgehört. Doch ihre einstmals so traurigen Augen leuchteten
auf geradezu mystische Weise. Ich denke, sie erblickten den Pferdehimmel mit
prächtigen Hengsten und Stuten, die sich dort von ihrem irdischen Leben
erholten, um sich für kommende Aufgaben vorzubereiten. Ich konnte mir Natascha
gut unter ihnen vorstellen, wie sie mit ihren Clownerien die übrige Gesellschaft
zum Lachen brachte, so wie es ihre Bestimmung war.
Entgegen allen behördlichen Bestimmungen haben Herbert und ich Natascha in einer
Nachtundnebelaktion heimlich in einem nahen Gehölz auf einem kleinen Hügel
begraben. Wir konnten es nicht über unser Herz bringen, mit ihr den gesetzlich
vorgeschriebenen letzten Weg zu gehen. Für ihre irdische Ruhestätte habe ich ein
Kreuz aus Birkenstämmen, an denen sie immer gerne genagt hat, angefertigt und
eingepflanzt. Heute wachsen dort sogar einige Vergissmeinnicht, was wohl kaum
als Zufall anzusehen ist. Wenn immer ich traurig bin, gehe ich heimlich an
Nataschas Grab, und bald schon höre ich ihr Lachen und vermeine, ihre Nüstern an
meiner Wange zu spüren. Ich bin mir sicher, dass sie genau weiß, was mich
hergeführt hat, und sie spielt für mich den Clown, um mich aufzuheitern.
Dafür bin ich Natascha dankbar. Ich werde sie ewig lieben.
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Ich erinnere mich, dass im Rahmen
einer Übertragung vom Dressurreiten bei den Olympischen Spielen ein
überschwänglicher Reporter über das Goldpferd Rembrandt schwärmte, es sei
genial. Das mag zwar durchaus in gewissem Sinne zutreffend gewesen sein, doch
kannte er Natascha nicht. Wenn jemals ein Pferd dieses Attribut verdient hat,
dann Natascha.
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